jederzeit
02/10/2015
wenn nun der schatten über dein gesicht fällt? sich an deine wangen heftet, ihr fett aufsaugt, jede farbe löscht. sich vertieft in den ringen unter deinen augen, die brachliegen wie ein feld, vergessen und verdorrt.
wenn keine zeit bleibt, dinge zu ordnen, verfügungen zu treffen oder gar: koffer zu packen.
wenn dein denken beschließt, kein denken mehr zu sein, sondern ein wirren, ein jagen von sinn zu nichtsinn, von funkeln zu glimmen zu erlöschen zu nichts.
wenn man dir dein haus nimmt, dich aus deiner stube zerrt. beim kamin steht noch das glas mit dem roten wein. lange hast du gesucht nach diesem jahrgang, degustiert und geschlürft, gespuckt. geprüft hast du die schlieren am glas, kathedralen, sagtest du, siehst du, riechst du, wie fruchtig, wie alt und samtig. noch steht das glas beim kamin. und was, doch was? wenn dir nichts mehr gehört, weder glas noch kamin noch haus noch das recht, das haus zu betreten.
wenn die straße alles ist, das bleibt und nicht vergeht. was, wenn sie als einzige gewissheit besteht neben nacht und tag und wieder nacht, neben der leere, die kommt und herrscht, sich ausbreitend, einnistend, dehnend und schrumpfend gleichzeitig im bauch im kopf in der seele. im all.
und deine bildung, auf die du viel hältst: wenn sie nichts mehr zählt. dich nichts berechtigt, nichts befähigt, nichts versichert, nichts ernährt.
was dann?
nimm, heißt es, frag nicht. nimm was du kriegst. sei dankbar, sei leise, sei die demut. sei unsichtbar in dem winkel, der dir zugeteilt wird. sei froh, dass du ihn hast. sein wert ist größer als der deine. ein wurm bist du, weniger. ein unglück unter fremden blicken. hochmut wuchert über deinen leib, verdorrt dir den mund.
du glaubst, du bist gefeit? niemand ist gefeit. niemand ist sicher. niemals. der nächste, der geht. die nächste, die fällt, bist du.
(textbeitrag zum ausstellungs-katalog für oskar stockers projekt: „eingesperrt – never forget“. zu sehen in der grazer schell collection bis ende 2015)