Hedwig in der Nische (Textauszug)
15/10/2009
Hedwig sah sich in der Nische um. Die war einen halben Meter tief. Zwei Meter hoch und einen Meter breit. Nicht viel Platz. Aber wenn man eine alte Matratze zusammenrollt? Dachte Hedwig. Und im Winter könnte man eine Plastikplane vorhängen. Dann gäbe es sicher bereits Leute, die sich meiner erbarmen. Und Essen bringen. Und sich wohl dabei fühlen. Barmherzig. Ich würde anderen helfen, barmherzig zu sein. Ich würde schon riechen und die Grätze haben und verwässerte Augen, weil ich trinken müsste, um das hier auszuhalten, und schwarze Zahnstummel in einem verrunzelten Mund. Ich würde alte Kleider anhaben und dicke Strümpfe und nur mehr einen Meter fünfzig groß sein, mit verfilztem grauen Haar auf dem Kopf und so unverständlich brabbeln, dass mich niemand mehr versteht. Wie schnell das geht, dass man verfilzt, dachte Hedwig.
Sie sah auf. Die nächste Straßenbahn kam. Hielt. Fuhr weiter. Eine Frau ging vorbei. Sie führte ein Hündchen an der Leine und roch nach Blumen und Zimt. Hedwig sah sich klein und verhunzelt in der Nische hocken, während ein Hund das Bein hob. Verflixte Köter, dachte Hedwig. Und: Man könnte sich hier ja auch was Grünes anschaffen. Efeu, zum Beispiel. Der rankte sich dann rund um den Eingang. Ein neues Bild zwirbelte sich in Hedwigs Kopf zusammen: Hedwig in der Nische, die von Blumen umrankt war. Wie ein altes Heiligenbild. Im Winter wäre sie barfuß, wie die Heilige Hedwig von Andechs. Omas Lieblingsheilige. Daher der Name.
Auszug aus dem Text „Hedwig in der Nische“ – Bild von Nicola Dander.