Alles katzt heute
10/06/2010
Oder: Das Band, das Band, an meiner Hand …
Jetzt wird alles ruhiger, die Sonne ist fast ganz weg. Die Katzen auch. Darunter die eine, die an nackten Zehen kaut, wenn man sie lässt. Ein paar Schwalben sicheln sich noch durch den Himmel. Mücken umzingeln den Tisch, die Blumen schließen für die Nacht. Eine Amsel lärmt quer durch den Garten, und über mir fliegt etwas, das wie ein Reiher aussieht, vorsichtig ostwärts, als täten die Flügel weh. Vorhin, im Abendsonnenschein, noch zum Bruder geradelt, durch dessen Zaun gespäht, keiner daheim außer den Molchen im Teich und den Wasserläufern auf dessen gründunkler Fläche, und wieder zwei Katzen, die sich vor mir auf den Boden werfen. Alles katzt heute.
Langsam, langsam nach Hause. Verwunschene Welt. Zurück zu den Eltern, kurz zwischen den Feldern Halt gemacht, stehen geblieben, dem Weiden-Schneefall zugesehen, dem langsamen, stillen Sinken der Weiden-Watte gelauscht, im Gegenlicht, versucht, das zu fassen und gewünscht, es möge drinnen in einem auch so aussehen, so langsam und still und licht und warm und wattig.
Und jetzt, im Garten, kurz vor dessen Betriebsschluss. Beobachtet von einer fremden Katze, die mit untergeschlagenen Pfoten im hintersten Eck lagert, es ist die „hässliche“ (wie mein Vater sagt), wir kennen sie nicht so genau. Das Lederarmband am linken Handgelenk stört fast gar nicht beim Tippen.
Das Armband trage ich seit ein paar Tagen, gekauft in Wien, danach gleich ein zweites gekauft für die Schwester, weil mein Armband hat eine Botschaft (das der Schwester eine andere), an die es mich erinnert, wenn ich hinsehe, wenn ich es anlege, wenn ich es spüre und dann auch am Abend, wenn es vom Arm genommen wird. Das funktioniert. (Ein kleiner Mückenschwarm zentriert sich vor dem Bildschirm, zerstreut sich und kommt wieder.) Es sollte ja um das Lederband gehen in diesem Text, und darum, was es mir immer wieder sagen soll. Nur drängt sich jetzt der Garten dazwischen.
Wir haben Zeit. Hinter mir blüht ein Topf voller Margeriten, und ich muss immer hinsehen, weil die Farben weniger werden, aber es finden sich noch welche. Das Weiß und Gelb der Margeriten, dunkles Blaulila der Leberblumen (wenn die so heißen), sattes Lilalila einer Wickenart und das siebenfärbige Rot der Fuchsien. Ein grüner Salatkopf, der blaue Plastikpool und die gelben Kugelstrauchblüten. Es gab auch noch einen glühenden Wolkenfinger, in die Sonne gestreckt, aber der ist jetzt weg. (Die Katze ist noch da.)
Mein Handy liegt auf dem orangen Tischtuch, das werde ich bald zusammenfalten, und, klein-geachtelt (es ist kreisrund), mit dem Sessel bei den Rädern verstauen. Dort ist auch der Rasenmäher und das Werkzeug und ein kühler Grasgeruch. Früher war das eines der Tischtücher unseres Gastgartens, da war das Wirtshaus noch in Betrieb, und der Tisch stand mit anderen Tischen unter der Pergola zwischen Oleanderbüschen. (Die Geräusche werden auch spärlicher, dafür die Mücken mehr. Die Nachbarin werkt im Garten und summt dabei.)
Damals war mein Sohn noch klein. Einmal ist er im Gastgarten gestolpert und hat sich nah am Auge ein wenig weh getan. Ich nahm ihn in den Arm, und weil es geblutet hat und wir uns Sorgen machten, sind wir nach Wels ins Krankenhaus gefahren. War dann nichts Schlimmes. Es gab Schlimmeres. Etwa den Unfall mit seinem Vater ein paar Jahre später, unverschuldet, mit viel Glück von beiden fast unbeschadet überstanden.
Ich zupfe dem geschlossenen Sonnenschirm ein paar Falten zurecht. Es wäre einfach, das Handy zu nehmen und ihn anzurufen, also meinen Sohn, der sich vor gut 18 oder 19 Jahren nah am Auge verletzt hat und dann einen schlimmen Unfall überstanden hat und noch anderes, ein Mal war die Hand eingegipst, dann waren da die Schulen und die Lehre und die Sehnsüchte, und ich könnte ihn schon anrufen, aber ich tu es nicht. Hier, im Garten, der seine Farben und Geräusche abdämpft und in den Schatten hinter der einen Solarsteckleuchte tritt.
Mein Vater hat die Hecke übrigens ganz bucklig geschnitten. Ich mag das. Und gestern, als ich meine Mutter nach dem Gelsenstecker fragte, synchronisierte ich perfekt und spontan ihre übliche Antwort: Es gibt doch noch gar keine Gelsen.
Der Himmel wolkt. Es ist ganz windstill. Und natürlich rufe ich meinen Sohn nicht an. Er ist in Wien geblieben. Er arbeitet, er lebt, er macht. Ich trete einen Schritt zurück. (In den Weiden-Watte-Schneefall zwischen den lichten Bäumen.) Das ist, als würde man eine zentnerschwere Tür öffnen wollen, einen kleinen Keil hineintreiben, damit sie offen bleibt, und den Spalt dann vergrößern, nach und nach. Ich möchte. Ihn endlich aus dieser Mutterklammer entlassen. Das erdrückt uns beide. Und deswegen, und weil er es sich verdient hat, und weil ich es mir verdient habe, dieses sauschwere Loslassen, sagt mein Armband mir (jetzt kommt’s raus): Ich habe einen erwachsenen Sohn.
Immer wieder. Bis es mir ganz klar geworden ist. Und ihm auch. Wie sonst soll das gehen.
Ich starre in den dunklen Garten. Die Katze ist weg. Sie raunzt beim Nachbarn. (Ich nehme an, dort ist mehr los.)