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Alles katzt heute

10/06/2010

 Oder: Das Band, das Band, an meiner Hand …

Jetzt wird alles ruhiger, die Sonne ist fast ganz weg. Die Katzen auch. Darunter die eine, die an nackten Zehen kaut, wenn man sie lässt. Ein paar Schwalben sicheln sich noch durch den Himmel. Mücken umzingeln den Tisch, die Blumen schließen für die Nacht. Eine Amsel lärmt quer durch den Garten, und über mir fliegt etwas, das wie ein Reiher aussieht, vorsichtig ostwärts, als täten die Flügel weh. Vorhin, im Abendsonnenschein, noch zum Bruder geradelt, durch dessen Zaun gespäht, keiner daheim außer den Molchen im Teich und den Wasserläufern auf dessen gründunkler Fläche, und wieder zwei Katzen, die sich vor mir auf den Boden werfen. Alles katzt heute.

Langsam, langsam nach Hause. Verwunschene Welt. Zurück zu den Eltern, kurz zwischen den Feldern Halt gemacht, stehen geblieben, dem Weiden-Schneefall zugesehen, dem langsamen, stillen Sinken der Weiden-Watte gelauscht, im Gegenlicht, versucht, das zu fassen und gewünscht, es möge drinnen in einem auch so aussehen, so langsam und still und licht und warm und wattig.

Und jetzt, im Garten, kurz vor dessen Betriebsschluss. Beobachtet von einer fremden Katze, die mit untergeschlagenen Pfoten im hintersten Eck lagert, es ist die „hässliche“ (wie mein Vater sagt), wir kennen sie nicht so genau. Das Lederarmband am linken Handgelenk stört fast gar nicht beim Tippen.

Das Armband trage ich seit ein paar Tagen, gekauft in Wien, danach gleich ein zweites gekauft für die Schwester, weil mein Armband hat eine Botschaft (das der Schwester eine andere), an die es mich erinnert, wenn ich hinsehe, wenn ich es anlege, wenn ich es spüre und dann auch am Abend, wenn es vom Arm genommen wird. Das funktioniert. (Ein kleiner Mückenschwarm zentriert sich vor dem Bildschirm, zerstreut sich und kommt wieder.) Es sollte ja um das Lederband gehen in diesem Text, und darum, was es mir immer wieder sagen soll. Nur drängt sich jetzt der Garten dazwischen.

Wir haben Zeit. Hinter mir blüht ein Topf voller Margeriten, und ich muss immer hinsehen, weil die Farben weniger werden, aber es finden sich noch welche. Das Weiß und Gelb der Margeriten, dunkles Blaulila der Leberblumen (wenn die so heißen), sattes Lilalila einer Wickenart und das siebenfärbige Rot der Fuchsien. Ein grüner Salatkopf, der blaue Plastikpool und die gelben Kugelstrauchblüten. Es gab auch noch einen glühenden Wolkenfinger, in die Sonne gestreckt, aber der ist jetzt weg. (Die Katze ist noch da.)

Mein Handy liegt auf dem orangen Tischtuch, das werde ich bald zusammenfalten, und, klein-geachtelt (es ist kreisrund), mit dem Sessel bei den Rädern verstauen. Dort ist auch der Rasenmäher und das Werkzeug und ein kühler Grasgeruch. Früher war das eines der Tischtücher unseres Gastgartens, da war das Wirtshaus noch in Betrieb, und der Tisch stand mit anderen Tischen unter der Pergola zwischen Oleanderbüschen. (Die Geräusche werden auch spärlicher, dafür die Mücken mehr. Die Nachbarin werkt im Garten und summt dabei.)

Damals war mein Sohn noch klein. Einmal ist er im Gastgarten gestolpert und hat sich nah am Auge ein wenig weh getan. Ich nahm ihn in den Arm, und weil es geblutet hat und wir uns Sorgen machten, sind wir nach Wels ins Krankenhaus gefahren. War dann nichts Schlimmes. Es gab Schlimmeres. Etwa den Unfall mit seinem Vater ein paar Jahre später, unverschuldet, mit viel Glück von beiden fast unbeschadet überstanden.

Ich zupfe dem geschlossenen Sonnenschirm ein paar Falten zurecht. Es wäre einfach, das Handy zu nehmen und ihn anzurufen, also meinen Sohn, der sich vor gut 18 oder 19 Jahren nah am Auge verletzt hat und dann einen schlimmen Unfall überstanden hat und noch anderes, ein Mal war die Hand eingegipst, dann waren da die Schulen und die Lehre und die Sehnsüchte, und ich könnte ihn schon anrufen, aber ich tu es nicht. Hier, im Garten, der seine Farben und Geräusche abdämpft und in den Schatten hinter der einen Solarsteckleuchte tritt.

Mein Vater hat die Hecke übrigens ganz bucklig geschnitten. Ich mag das. Und gestern, als ich meine Mutter nach dem Gelsenstecker fragte, synchronisierte ich perfekt und spontan ihre übliche Antwort: Es gibt doch noch gar keine Gelsen.

Der Himmel wolkt. Es ist ganz windstill. Und natürlich rufe ich meinen Sohn nicht an. Er ist in Wien geblieben. Er arbeitet, er lebt, er macht. Ich trete einen Schritt zurück. (In den Weiden-Watte-Schneefall zwischen den lichten Bäumen.) Das ist, als würde man eine zentnerschwere Tür öffnen wollen, einen kleinen Keil hineintreiben, damit sie offen bleibt, und den Spalt dann vergrößern, nach und nach. Ich möchte. Ihn endlich aus dieser Mutterklammer entlassen. Das erdrückt uns beide. Und deswegen, und weil er es sich verdient hat, und weil ich es mir verdient habe, dieses sauschwere Loslassen, sagt mein Armband mir (jetzt kommt’s raus): Ich habe einen erwachsenen Sohn.

Immer wieder. Bis es mir ganz klar geworden ist. Und ihm auch. Wie sonst soll das gehen.

Ich starre in den dunklen Garten. Die Katze ist weg. Sie raunzt beim Nachbarn. (Ich nehme an, dort ist mehr los.)

Schneller Durchlauf

15/06/2009

Es riecht nach Maiglöckchen und nassen Socken

Ich schnappe mir ein Buch und wandere die zweieinhalb Stockwerke hoch zum Dachgeschoss, die Wäsche wird gleich fertig sein. Hoffentlich. Manchmal spinnt der Wasserzulauf oder der Schleudergang, dann blinken vier Nullen und die Wäsche ist seifig oder tropfnass. Die Hausverwaltung fühlt sich nicht zuständig, die Hausmeisterin glaubt nicht, dass die Maschine kaputt ist – und die anderen Mieter ohne eigene Waschmaschine machen es offenbar wie ich: nachschleudern oder, im Zweifel, den schnellen Waschgang durchlaufen lassen. Ob wir alle lesen, während wir warten? In die Luft starren, Zigaretten rauchen. Die Geräusche des Hauses belauschen.

Der Aschenbecher quillt über und stinkt. Ich stelle ihn weg, drücke auf schnellen Durchlauf, setze mich auf den billigen blauen Stuhl und lese. Zwanzig Minuten später trage ich den Korb mit nasser Wäsche in meine Wohnung, während die zweite Füllung läuft. Nach weiteren vierzig Minuten mache ich mich wieder auf den Weg nach oben, das Buch unter dem Arm. Ein junger Mann kniet halb auf den letzten Stufen zum Dachgeschoss und wäscht das Geländer. Er schiebt einen roten Kübel mit Wasser und ein paar Tücher zur Seite, damit ich vorbei kann. Wir grüßen uns. Mein blauer Wäschekorb steht auf der Waschmaschine, eine ältere Frau putzt in einem der Nebenräume die Wandfliesen. Ich kenne die beiden nicht. Während ich die Wäsche nachschleudere, lese ich ein paar Seiten. Die Frau ist sehr gründlich. Sie zeigt mir die schmutzigen Innenleisten der Tür.

Eine Stunde später, ich hole die dritte Füllung. Mein Sohn macht seinen Grundwehrdienst, morgen Abend muss er wieder in die Kaserne. Mein Freund hat seine Trainingssachen mitgenommen, was weiß ich, warum wir so viel Wäsche haben heute. Im Treppenhaus riecht es nach Maiglöckchen. Das Geländer fühlt sich klebrig an. Nur noch eine letzte Füllung mit den Wollsachen – zehn grüne Militärsocken, ein dünner Pulli und eine Jacke. Im fünften Stock wischt die Frau die Aufzugtüre ab. Sie beugt sich über das Geländer und ruft „Andre, Andre!“, lauscht, keine Antwort, zuckt mit den Achseln und wischt weiter. Auf der Waschmaschine steht eine angebrochene Literflasche Coca Cola und zwei gelbe Plastikbecher.

Die zwei könnten Mutter und Sohn sein. Vielleicht Zeitarbeiter einer Firma, die Gebäude reinigt. Ich habe sie, wie gesagt, noch nie gesehen, aber der Maiglöckchenduft kommt mir bekannt vor. Sie arbeiten sich vom Dach bis zum Keller vor, Stock für Stock. Als ich den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnungstüre stecke, fällt mir auf, wie dreckig meine Türglocke ist. Seit gut neun Jahren wohne ich hier. Ich kann mich nicht erinnern, die Glocke je geputzt zu haben.

Mutter und Sohn. Ich überlege mir, wie es wäre, fremde Häuser zu putzen. Wie es wäre, gerade so viel zu verdienen, dass es reicht. Meine Couch ist zwanzig Jahre alt, zerschlissen und kaputt. Ich würde mir keine neue kaufen können. Und wenn, dann nicht die, die ich will. Sondern die, von der ich mir einreden würde, sie sei ganz hübsch. Wir würden niemals in Erwägung ziehen, einfach mit dem Taxi zu fahren, weil es, na ja, auch mal ok ist. Kino und alles andere vielleicht einmal im Monat, wenn es ein guter Monat war. Ich würde Charlie eher nicht schreiben: „He, wenn du möchtest, dass ich nach Florida komme, dann komme ich.“

Charlie ist alt. Er mailte mir gestern: „I am going downhill too fast.“ Seine Europareise im September hat er storniert. Seit ich ihn kenne, redet er vom Tod, manchmal beiläufig, oft sehr direkt. Er ist ein Mann voller Lebenskraft und Traurigkeit, eine aggressive Mischung. Wenn es soweit ist, werde ich einen Flug buchen, nach Miami oder Fort Myers, mir ein Mietauto nehmen und nach Ocala fahren, mit ihm und seiner Frau und seiner Tochter traurig sein, noch einmal fröhlich sein, mich verabschieden. Es wäre mir egal, dass ich dann noch weniger Geld auf dem Konto hätte, weil ich keine Schulden habe und ein gutes Einkommen und Zuversicht, dass es so weitergeht.

Aber. Wenn nicht? Ich hänge die Wäsche auf den Ständer, ein kompliziertes System – die Sachen meines Sohnes müssen bis morgen Abend trocken sein, die meines Freundes haben Zeit bis Montagmorgen, meine können hängen bleiben, bis ich Lust habe, sie wegzuräumen. Unter der Woche bin ich allein. Bilder wandern mir träge durch den Sinn, von mir und meinem Sohn, irgendwo in einem fremden Land Häuser putzend, in einem Eck ein Discountersackerl mit Getränken und ein paar Broten, am Abend täte mir der Rücken weh, den Maiglöckchenduft ständig in der Nase.

Mehr fällt mir nicht ein. Ich drücke mein Gesicht in den nassen Wollpulli. Er riecht nach Militärsocken.

Erwachsenwerden tut nicht weh

Mein Gegenüber will nicht ganz erwachsen werden, weil das tue weh. Schwachsinn, sag ich, nicht das Erwachsenwerden tut weh, sondern das Kind bleiben. Was haben die Leut‘ nur alle mit dem „bewahr dir was Kindliches?“ Sie behaupten, im Herzen Kind zu sein und sind’s stattdessen nur im Kopf.

Diesen Kopf neigen sie zur Seite, sehen dich verklärt an, zitieren Saint-Exupéry und schwärmen von den unschuldigen Spielen der Kinderzeit. Damals wären sie Cowboy gewesen oder Prinzessin im Fasching. Und heut‘ sind sie – ganzjährig – Schamane oder Hexe. Oder Experte für Familienaufstellung. Für „die richtige Ordnung“.

Nimmt man ihnen ihr Spielzeug weg, stampfen sie mit den Beinchen. Sie schwärmen für die depperte blonde Ärztin bei „Grey’s Anatomy“, die emotional noch nicht einmal Volksschulreife erreicht hat. Oder für die andere, die sich aufführt, als hätte die Halbschwester ihrem Teddy ein Ohr abgerissen. Jetzt darf niemand mit der blöden Kuh reden. Wer es tut, ist nicht mehr ihre Freundin, ätsch.

Das Kindsein ist grad sehr en vogue. Also was? Das sich in einer Phantasiewelt verlieren? Als Mädel war mir der Schotterparkplatz hinter dem Haus mit seinen mannshohen Stauden ein Königreich, in dem ich den Sommer verbrachte. Sobald die Zeugnisse verteilt waren, hockte ich auf der Mauer unserer alten Terrasse. Die Schwalben über und acht Wochen Ferien vor mir. Um auf diese Terrasse zu kommen, musste man über eine dunkle Stiege in der Holzhütte – und damit war der Zauber schon beendet. Weil man sich da ordentlich fürchten konnte. Vor Ratten und Mäusen, oder Spinnen. Oder sonst was, man war mit Phantasie gesegnet.

Wenn die Leute sagen, sie möchten sich ihr Kindsein bewahren, welchen Teil davon meinen sie genau? Vielleicht den mit den dunklen Treppen und den ungelösten Geheimnissen, den noch fehlenden Zugang zu rationalen Erklärungen und den damit verbundenen Ängsten?

Oder vielleicht vermissen sie die erlaubte Fremdbestimmung. Das sich Hingeben in die Verantwortung eines anderen. Ich sag dir, was du zu glauben hast. Wann du zu schlafen hast. Was du zu essen hast. Welches Talent du hast. Was dein Wert ist. Welche Farben dir stehen, welcher Haarschnitt. Sie sagen dir, ob du ein gutes Kind bist. Oder ein schlimmes. Ein fleißiges, oder ein faules. Ob du egoistisch bist oder selbstlos. Wobei egoistisch immer schlecht ist und selbstlos immer fein. „Prägung“ nennt man das. Korrigieren Sie mich, wenn ich entwicklungspsychologisch daneben liege.

Ich würde das ja eher „Image“ nennen. Schauen Sie sich um in Ihrem bekinderten Bekanntenkreis, wie viel Nachwuchs Erwartungen entsprechen muss, die Erwachsene in ihn setzen. Und, im Gegenzug, wie viele Söhne und Töchter einfach ausprobieren können, ohne gleich einen Stempel auf der Stirn zu tragen. Eine perfekte Vorwärtsrolle: Sportlerin. Eine kleine Serie schöner Wachskreidenzeichnungen: Künstler. Dreimal in Folge keine Lust auf Karotten: Gemüseverweigerer. Ab und zu nicht gefolgt, sondern in Frage gestellt: Schwieriger Mensch.

Natürlich muss man so einem Image entsprechen, wenn man dadurch Gegenstand der Aufmerksamkeit bleibt. Kinder, davon bin ich überzeugt, sollten nebenbei aufwachsen können, wie Unkraut in einem sicheren Garten, als akzeptierter Teil des Ganzen, aber nicht als Mittelpunkt der Welt. Diese Rolle ist zu heftig, und auf Podesten wird es schnell einsam.

Und: Einem Kind kann man alles erzählen. Zum Beispiel die Sache mit der Erbsünde. Adam und Eva sind früher dran als Darwin. Voll Staunen hört man die Geschichte vom Paradies, fortan sind alle Schlangen falsch und alle Frauen Schlangen.

Wobei wir wieder am Anfang wären. Ich habe mich ein wenig in Rage geredet. Versteh mich richtig, sag ich zu meinem etwas im Liebesleid verhafteten Gegenüber. Meine Kindheit war eine gute Zeit. Aber danke, abgehakt. Den Schotterparkplatz mit den hohen Stauden gibt’s nicht mehr. Ich könnte dort jetzt parken, wenn ich ein Auto hätt.

Das Älterwerden ist ein Hund

Frau Lugner zieht sich für „News“ aus und entdeckt ihre Weiblichkeit neu, was – so ihre Rede – in engem Zusammenhang mit einem frisch aufgefüllten Busen steht. Und dem überschrittenen 40er.

So, und jetzt verkneifen wir uns jeden Zynismus. Nicht nur in Sachen Lugner, die gute Frau soll sich ausziehen, wann immer sie will. Vor allem verkneifen wir uns böses Gehechle in eigener Sache. Weil, das Älterwerden ist schon ein Hund. Einer, der einen ins Kaffeehaus zieht, obwohl man eigentlich auf dem Weg zum Abendsport war.

Ach, meine Lieben, ach. Früher ging ich drei Mal die Woche trainieren und dazwischen war ich noch per Pedes unterwegs, stundenlang. Jetzt wird schon das Tragen der Trainingstasche zur Herausforderung an Körper und Geist. Der zweifelt ohnehin alles an.

Vorgestern versammelten wir uns fröhlich in jenem Hotel, in dem mein Sohn fürs Leben lernt. Man (die Lehrlinge) gruppierte uns (Eltern, Lehrpersonal und Vorgesetzte) in einem eleganten Saal um elegante Tische, wozu wir uns in feinstes Tuch gehüllt hatten. Zuvor waren wir mit blauen oder roten Begrüßungscocktails abgefüllt und durch das noble Hotel geführt worden, wobei „geführt“ durchaus zutrifft. Der blaue Cocktail war ziemlich Gin-lastig. Sehr spannend in Kombination mit ungewohnt hohen Schuhen und wenig Trinkfestigkeit.

Als wir dann später glücklich bei Tisch saßen, war alles ganz wunderbar: Das fünfgängige Menü, die Musik im Hintergrund, die Stimmung. Von den Lehrlingen arrangiert, gekocht, serviert. Wir benahmen uns, als ob wir niemals anders gegessen hätten, wählten zielsicher das richtige Besteck, führten gepflegte Konversation und protzten mit perfekten Tischmanieren. Serviette auf dem Schoß. Kein aufgestützter Ellbogen.

Zuwarten, bis jedem serviert wurde. Was nur bei der Suppe zu einer kleinen Irritation führte. Als nämlich alle die Löffel in den Petersilienschaum senken wollten, wurde mir und dem Mann an meiner Seite die Essensgrundlage entzogen – also vorzeitig abserviert. Schuld war das knusprige Speckblatt, Fleischverweigerern anscheinend nicht zuzumuten. Wir hätten das Blatt zwar ohne weiteres einfach ignoriert, bekamen dann aber völlig neu speckfrei. Toller Service.

Beim Essen unterhielten wir uns leise darüber, wie wir zu Geld kommen könnten (ein Automatismus in gehobener Umgebung). Ich beobachtete dabei vergnügt meinen Sohn, der sich sicher zwischen den Gästen bewegte, da ein wenig plauderte, dort Wein nachschenkte, lächelnd und sich seiner selbst bewusst. Hinter ihn dachte ich mir seinen Urgroßvater, in den 1920er-Jahren Chefkoch im Salzburger Peterskeller, und seinen Großvater, der in Lausanne für Aga Kahn und Rita Hayworth gekocht hatte und heute noch strahlt in der Erinnerung.

Das Dessert enthielt Sachen wie Granatapfelespuma und Mousse von der Passionsfrucht. Der Gin war fast vergessen, da sollte ein gut gekühlter Chardonnay nicht schaden, denkt Frau – und büßt einen Tag später mit Blei in den Beinen und leicht beleidigten Innereien.

Ja, das gibt’s. Deswegen gestern auch Kaffeehaus statt Abendsport, die Trainingstasche unterm Tisch und darauf die Kombi Melange und Krapfen mit Vanillesauce um 4,50. Und bunte Hefte.

Frau Lugner und ich, wir sind beide über 40. Ein Gegenüber meinte dazu, ich müsse mir demnach jetzt auch die Oberweite aufpolstern lassen und mein Frausein neu definieren. Und dann solle ich mich natürlich ebenfalls nackt fotografieren lassen, vielleicht, meint die Dame und nippt am Wasserglas, während sie mich mustert, für den „Falter“.

Ich sehe also aus wie eine „Falter“-Abonnentin. Dabei ist alles, was ich vielleicht abonnieren werde, ein Platz in der Aida, zwischen Punschkrapferl und gesetzten Damen. Und was das Nacktfoto betrifft – im „Falter“ würde es vielleicht sogar zum Tier der Woche reichen.

Wahrscheinlich sollte ich doch wieder mehr Abendsport machen.

Die andern sind uns egal

Als Studierende an der Sozialakademie wurde mir einmal gesagt: „Karin, wenn du eine Seminararbeit präsentierst, erklärst du dir die Welt – und wir anderen sind zufällig auch dabei.“ Damals lernte ich einiges über das Lernen an sich. Dass es verschiedene Lerntypen gibt und welcher davon auf mich zutrifft, und dass ich Zusammenhänge erst dann begreife, wenn ich sie mir selbst erkläre. Reichlich spät mit 25, nach einer Schulkarriere, die mehr Tiefen, als Höhen hatte und einige Entscheidungsprüfungen zwischen Nicht- und dann halt doch noch Genügend.

Dazu ein paar Betragensnoten jenseits des „Sehr gut“. Was soll’s. Matura wollte ich haben, als Dramaturgin habe ich mich geträumt, als Sozialarbeiterin bin ich aufgewacht, und allein der Weg von einem zum anderen ist ein kleiner Roman.

Aber darum geht’s nicht. Sondern um meine tiefe Überzeugung, dass das österreichische Schulsystem, so wie es ist, nicht genügt. Weil dieses System ein Kind jahrelang in dem Glauben lassen kann, es sei „schlecht“ und „faul“, statt ihm die richtigen Lernmethoden zu vermitteln. Weil dieses System Menschen klassifiziert, nicht nur in Hauptschüler und Gymnasiasten, sondern sogar innerhalb der Hauptschule noch Platz ist für erste, zweite und dritte Leistungsgruppe, und weil das keine Förderung bedeutet, sondern eine Abstufung. Die guten ins Töpfchen. Und die „nicht guten“? Ich habe mit Jugendlichen gearbeitet, die sich am Ende dieser Lernkette gerade noch festhalten konnten, keine Aussicht auf eine Lehrstelle, nix, keine Chance. Und es war keine Frage von mangelnder Intelligenz.

Ein Lehrer verweigerte ein gemeinsames Gespräch mit einem seiner Schüler und mir mit den Worten: „Sie können gern mit ihm reden. Aber wenn ich ihn seh‘, muss ich kotzen.“ Und das, um die üblichen Argumente vorwegzunehmen, an einer nicht übervollen Schule, mit wenig Migrantenkindern und mitten am Land. Keine heile Welt da draußen. Noch dazu bin ich selbst Mutter, mein Sohn ähnelt mir, sieht aus dem Fenster, eine Schneeflocke, taumelt mit ihr durch die Luft, während vorne der Lehrstoff gepredigt wird.

Noch heute geht es mir so: Stehen einem Vortragenden Nasenhaare aus dem Nasenloch oder die Heizung summt oder draußen schüttelt ein Baum im Wind seine Äste, geht oft nix rein von den Worten, nur die Bilder bleiben picken. Ja Herrschaftszeiten, bedeutet das denn, dass man dämlich ist? Oder nicht eher, dass man sich den Stoff bildhaft erarbeiten muss, sich eine Galerie im Hirn aufbauen soll statt einer Wortliste?

Oft fehlt einfach das Geld für Alternativen. Alleinerziehend, wie ich war, bin ich mit meinem Sohn nach Wien gezogen, nicht nur, aber doch wegen der Auswahl jenseits von Hauptschulen und Frontalunterricht. Aber die richtigen Alternativen, die Schulen mit mehr Platz für Individualität, dort, wo man nachfragen kann und forschen kann und lernen kann, wie man zu lernen hat – diese Schulen konnte ich mir nicht leisten. Jetzt überlegen Sie mal: Ich war zwar allein mit meinem Sohn, verdiente aber doch durch den neuen Job in der sich gerade aufblähenden Internetblase relativ gut. Trotzdem: Die spannenden Schulen waren nicht drin.

Natürlich gibt es auch gute Regelschulen, keine Frage, aber die müssen Sie erst mal finden. Im Prospekt steht vielleicht: Kooperative Mittelschule mit kreativem Schwerpunkt. Die Direktorin schwärmt von der doppelten Lehrbesetzung in den Hauptfächern – damit „kein Kind verloren geht“. Und dann stellt sich heraus, dass sich die Kreativität auf Seidenmalen im Schulkeller beschränkt, und die Mathelehrerin die verbockten Schularbeiten der 2a hämisch in „ihrer“ Klasse, der 2b, präsentiert. Während die andere Mathelehrerin erklärt: Sie unterrichte dieses Fach, weil man zur Korrektur von Deutschschularbeiten viel zu lange braucht. Winke, winke.

Zurück zum Geld: Ich konnte mir wenigstens Nachhilfeunterricht für meinen Sohn leisten, um die Defizite des Unterrichts auszugleichen. Denn ist die Schule nicht eine Dienstleistung mit dem klarem Auftrag und Ziel der Wissensvermittlung? Wie erklärt sich dann die hohe Zahl von Wiederholungsprüfungen und Nachsitzern, wodurch rechtfertigen sich die unglaublich hohen privaten Ausgaben in Sachen Nachhilfe? Der massive wirtschaftliche Erfolg der diversen Lerninstitute sollte der Bildungspolitik die Schamesröte ins Gesicht treiben. Stattdessen behauptet die nach wie vor: Wir sind so super.

Ja, eh. Und Diskussionsverweigerung zeugt von sozialer Kompetenz. Worum geht’s da eigentlich?

Tag weg, Nacht da

Diesen Text wollte ich gestern Nacht schreiben, viel zu spät, aber na ja. Am Abend kam das Mail, ob ich was vorbereitet hätte für heute, weil, da gebe es einen Rhythmus, demnach wäre ich an der Reihe. Ich hatte nicht. Jener besagte Rhythmus war mir etwas entglitten. Ich, forsch, schrieb zurück: Kein Problem. Um dann – innen wie außen – auf Themensuche zu gehen. Zugeworfen wurde mir zum Beispiel: Schreib über die Barrieren im Kopf. Interessant, da lässt sich was draus machen.

Dachte ich. Nach Hause kam ich spät abends. Gleich schreiben ging nicht, erst duschen, Tee trinken und den ganzen Schmonzes erledigen, den so ein Abend nach sich zieht. Also noch ein wenig blöd vor dem Fernseher hocken, das Gehirn ausleeren. Tag weg, Nacht da, normalerweise geht das dann mit dem Schreiben. Normalerweise hat sich bis dahin aber eine Idee im Kopf festgebissen und will geschrieben werden. Gestern war dem nicht so.

Das Thema Barriere im Kopf war selbstredend. Ging nicht.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht und vor dem Computer. Bei den Nachbarn Freunde zu Besuch. Bei mir: Mein Sohn zu Besuch. Ich mein, er wohnt eh noch bei mir, aber eben überwiegend in seinem Zimmer. Ab und zu hat er so was wie ein Mitteilungsbedürfnis, und das meistens, wenn ich schlafen soll, schreiben will oder pinkeln muss. Das mag jetzt für einige ein Déjà vu sein, denn das hatten wir an dieser Stelle auch schon: Ich dreh mich vom Computer weg, leg die Beine hoch und lausche.

Um halb eins waren wir durch. Sofern man den seelischen Marianengraben eines 18-jährigen Wesens in einer guten Stunde durchtauchen kann. Das Schwierige ist: Man erinnert sich wohl an diese Zeit. Aus weiblicher Sicht. In das männliche Pendant kann man sich da auch nur einfühlen und sich bestenfalls einen Partner suchen, der ein wenig aufwiegt, was der Kindsvater nicht leisten konnte. Kindsvater. Klingt bös, ist aber nicht so gemeint. Der meines Sohnes ist schon o.K., nur halt in vielerlei Hinsicht ein bisserl weit weg.

Übrigens ist es großartig, mit 40 ein fast erwachsenes Kind zu haben. Man befindet sich quasi gemeinsam auf der Suche, ist aber schon ein Stück weniger verzweifelt. Zurück zum Text: Wir sitzen also, reden, über die Liebe diesmal und über Beziehungen und warum das manchmal so lange braucht, bis es was wird, wie Frauen ticken in dem Alter (weiß ich das? war ich so?) und überhaupt. Bis er gähnt, aufsteht und sich wieder in die Höhle trollt. Vorher die Frage: Musst du noch was schreiben? Ich: Ja, eine Kolumne für morgen. Er: Worüber? Ich: Keine Ahnung.

Worauf sich die Schleuse öffnet und sich eine Themenflut über mich ergießt. Schreib über dies und das und jenes. Über 9/11, den Papst, über was Blödes, über was G’scheites. Fein. Mein Sohn geht schlafen, leer geredet, und ich sitz‘ da. Vorher konnte ich nicht schreiben, weil mir nicht einfiel, worüber. Jetzt kann ich die Tür nicht aufmachen, weil ich keine Hand freihab.

Revolte. Ohne die Zähne zu putzen, ohne die Haare zu bürsten, sogar ohne aus dem Fleecepulli zu schlüpfen, geh ich ins Bett. Den Wecker auf halb fünf, sechs und acht gestellt. In der Nacht träume ich wirr, von zwei Texten, die ineinander wachsen, organisch sind, ganz eigenartig. Ich wache öfter auf, als mir der Wecker vorschlägt, das erste Mal um drei Uhr. Um half fünf rast mein aus dem Schlaf gerissenes Herz, um sieben liege ich schließlich in einer Art Halbtrance wach und hoffe, bald mehr als die Augen bewegen zu können.

Na ja, und jetzt: Haben wir immerhin die Nacht miteinander verbracht. Sitzen da (ich zumindest), bei Butterbrot und Gewürzkräutertee, noch ungewaschen, struppig, mit Restschlaf im Gemüt und der Zuversicht, dass sich die zu ehernen Feuerschutztüren ausgewachsenen Barrieren im Kopf beizeiten öffnen werden. Und der gestörte Rhythmus kommt auch wieder ins Lot.

(Cliffhanger: Beim nächsten Mal erzähle ich Ihnen vielleicht davon, wie es ist, einen Freund und Kollegen durch den Ramadan zu begleiten. Eine Art Ramadan light für Nichtmuslime. Stichwort: Gewürzkräutertee. Nicht unspannend.)

Ich kann Kung Fu. Kein Witz.

Manchmal muss man sich geschlagen geben und genau das tun, was man eben nicht machen wollte – zum Beispiel wieder eine Kolumne übers Muttersein schreiben. Weil, die letzte ist mir fast etwas zu gut angekommen. Als Ausgleich war für diesmal ein Depri-Text geplant, über die Sehnsucht nach rötlichen Marswüsten, mit Stille, die aufs Trommelfell drückt und einer Leere, in der man sich nicht verliert. Das hätte klappen können. Hätte. Erste kleine Schmiernotizen waren gemacht. Seit am Samstag die Marsidee im Kino entstand (Vorschau zu einem Film, der – nona, wo glauben Sie? – spielt), geht der künstlerische Geist damit schwanger. Mars! Felsebenen! Weite, Weite! Einsamkeit!

Dort gibt’s keine blöden Werbungen für Damenhygieneprodukte, die Frauen unten herum als undicht hinstellen oder als unsauber (‚tschuldigen, das wollte ich schon lang anbringen), keine Sprüche im Radio über – nein, ich sag’s nicht. Ich hab versprochen, weder das W-Wort noch das P-Wort zu erwähnen. (Das eine reimt sich auf netter und das andere auf Schotter.) Kein Ami-Bashing, keinen Feinstaub-Alarm, keine Diskussionen, ob man das Bio-Taubenbrüsterl an weißen Morcheln und von Hand großgezogenen Kartofferln im Lokal X bestellen kann, obwohl die Einrichtung so was von uninspiriert ist. Keine Menschen, die sich als „Bobos“ bezeichnen lassen und darauf noch stolz sind. Nichts, das nervt.

Ja, ich leb auch im siebten Bezirk, ja, ich hab auch einen Job in der Medienbranche, und ja, ab und zu fahr ich mit dem Fahrrad in die Arbeit. Aber wer mich als „Bobo“ bezeichnet, der kriegt es mit mir zu tun. Ich kann Kung Fu. Kein Witz. Mit genügend Adrenalin im Blut, einem gut platzierten Überraschungsmoment und viel Glück könnte ich vielleicht sogar einen Treffer landen. Und dann weglaufen. Vor allem, wenn mir der Gegner körperlich unterlegen ist. Bei „Bobos“ mach ich mir da wenig Sorgen. Die trainieren alle nur Yoga, tragen einen sanften Blick und weite Freizeithosen. Über die sie hoffentlich stolpern. Wenn sie mir nachlaufen.

Fühlt sich jetzt jemand auf den Schlips getreten, der die Bezeichnung „Bobo“ als Kompliment versteht und es sich im entsprechenden Schubladerl schön gemütlich gemacht hat? Wird mir der Fehdehandschuh ins Gesicht geworfen und die Aufforderung, ins MQ zu kommen, um bei einer Boule-Partie Vergeltung zu üben? Ha! Nur zu!

Ich würde mich so was von blamieren. Ich würde erklären, dass mir diese Kolumne ein bisserl aus dem Ufer geraten ist, weil, alle Kolumnen sind eigenständige Tierchen, manche lassen sich zähmen, andere gehen durch. Die hier geht (ich hab sie mit Schaudern überflogen) eindeutig durch. Warum plötzlich diese „Bobo“-Sache? Ich hab nicht wirklich was gegen Leute, die bourgeois sein wollen. Oder/und bohemien. Wo bleibt hier der Mars? Und was hat mein Kung-Fu-Training damit zu tun?

Es hat mich zumindest müd gemacht. Sich in meinem Alter noch mit jungen Burschen zu prügeln, hinterlässt Spuren. Wir (mein Notebook und ich) teilen uns folglich gerade nicht nur das Bett, sondern auch den niedrigen Energielevel. Denn gleich nachdem der Trainer unsere Körper wieder für einen anderen Gebrauch als den des Kampfsports freigegeben hatte, hüpfte ich erst unter die Dusche, dann ins G’wand, dann in die U-Bahn und dann nach Haus, wo ich an meinem Schreibtisch zur Ruhe kam. Computer einschalten. Mars-Schmiernotizen auspacken. Tee griffbereit. Die Finger in Schreibposition … und es geht … nicht los.

Denn der mittlerweile erfolgreich der Minderjährigkeit entwachsene (noch nicht ganz erwachsene) Sohn (viel fehlt aber nimmer) schlurft in mein Zimmer, pflanzt sich auf die Couch und beginnt zu plauschen. Nicht jetzt sagen: Hätten Sie ihn halt wieder raus geschickt! Verstehen Sie: ER beginnt zu plauschen. Er, dem das Gesicht einfriert und die Ohrwascheln einschrumpfen, sobald man den Ansatz eines netten Gespräches erkennen lässt, das über die aktuelle Kühlschrank-Füllhöhe hinausgeht. ER erzählt freiwillig von seiner Arbeit und was er so macht.

Das passiert ungefähr so selten wie eine totale Sonnenfinsternis, daher drehe ich natürlich der Marsstory den Rücken zu und lausche. Ab und an darf sogar ich was reden. Wir unterhalten uns endlich wieder einmal, wie schön.

Mit dem Effekt, dass sich die Marsstory beleidigt verzieht und, als ich mich ihr wieder zuwende, an ihrer Stelle ein paar „Bobos“ herumirren. Verstehen Sie, warum ich nie reich sein werde? Ich könnte Millionen scheffeln mit Erziehungstipps und Mutterkolumnen, stattdessen schreibe ich konfuse Texte über diverse Bevölkerungsgruppen und den Mars. Über Ebenen aus rotem Sand. Mit Fels überzogen. Weite, Weite! Einsamkeit!

Ach. Na ja. Vielleicht das nächste Mal.

Es ist später Abend, draußen streiten die Nachbarn. Der Straßenlärm bricht sich an der Stille im Zimmer. Ich sitze seit einer Viertelstunde vor dem leeren Word-Dokument und überlege den ersten Satz. Gleichzeitig steigt etwas hoch in mir und sammelt sich im Hals, ein Gewirr an Gefühlen.

Ich schließe die Augen. Lasse die Nachbarn streiten. Stehe blind auf, taste mich blind durchs Zimmer zum Bücherregal, ziehe blind ein Buch heraus, taste mich zurück, setze mich, schlag das Buch auf (noch immer blind) und stecke meine Nase zwischen die Seiten. Guter alter Taschenbuchgeruch. Ich sehe nach, was ich aufgeschlagen habe.

Das ist kein Orakel. Alles was ich wollte, war ein erster Satz für diesen Text. Und diesen hier habe ich bekommen: “My incognito is exploded”, aus Mark Twains “Life on the Mississippi”. Was für ein Zufall, denn mit dem Mississippi habe ich noch eine Rechnung offen. Im April 2003 versprach ich mir in Memphis, am Ufer stehend, die nackten Beine im Flussschlamm, ich käme wieder, wenn mein Junge groß ist, mit mehr Zeit und mehr Ruhe. Seither sind etwas mehr als vier Jahre vergangen.

Toni, mein Sohn, wird am Samstag achtzehn. Ich werde ganz Wien drücken und meine Liebe zu ihm in die Weinberge tätowieren, in Ermangelung von Alternativen. Denn Seine Hochwohlgeboren belieben in Griechenland zu weilen, um dort mit Freunden Geburtstag zu feiern. Ohne Handy, ohne mir zu sagen, wo er genau ist. Irgendwo in Kreta, schon seit fast zwei Wochen. Weswegen es auch so leer und still ist in der Wohnung.

Wir sind eine alleinerziehende Familie, wir zwei, seit gut dreizehn Jahren. Wobei, ganz allein stimmt auch wieder nicht. Meine Eltern haben mitgeholfen. Mein Vater hat ihm solange die Würstl kleingeschnitten, bis ich beschlossen habe: Wir ziehen weg aus der ständigen Reichweite. Essen nach Wunsch gibt es nur in den Ferien. Das war natürlich nicht der wirkliche Grund. Aber damals sagte ich zu meinem Sohn, der gerade zehn geworden war: Nach der Hauptschule gehen wir nach Wien.

Und Toni sagte: Machen wir das doch gleich. Das taten wir dann auch. So war das. Daran ist nichts Romantisches. Auch kein cooles Mutter-Sohn-Ding. Das waren zum Teil beinharte Zeiten und tausend Kämpfe.

Ich habe so viele Fehler gemacht, wie man nur machen kann. Für einige werde ich mich bis an mein Lebensende schämen. Ich wollte nie Mutter sein, weil ich ahnte, wie schwer das für mich sein wird. Aber als ich vor knapp 19 Jahren heulend dem Frauenarzt dabei zusah, wie er mit der Ultraschall-Sonde kaltes Gel auf meinem noch flachen Bauch verteilte, hörte ich schlagartig auf zu heulen, als er mir am Bildschirm dieses fette, kugelrunde Ei zeigte. Sie sind schwanger. Das war ok und ich plötzlich sehr ruhig und voller Freude.

Weil. Deswegen. Wie kann man das erklären. Mein Sohn meint manchmal, dass ich ohne ihn vielleicht studieren hätte können. Er meint manchmal, er wäre eine Bürde für mich gewesen. Natürlich war er das. Nein. Nicht er, niemals er selbst. Nur manchmal die Situation. In Wahrheit war Toni lange Zeit die einzige Konstante in dieser völlig verrückten, unbegreifbaren Welt. In Wahrheit war er die Erdung, ohne die ich, die ständig am Abdriften war, tatsächlich verlorengegangen wäre. Gelegenheiten hätte es genug gegeben. In Wahrheit ist er das immer noch. Er ist tatsächlich und ungeteilt das Beste, was mir je passieren konnte.

Mein Sohn ist jemand, der einen zum Lächeln bringt, nur indem man von ihm redet. Ob das der Besitzer der Pizzeria unten im Haus ist, oder die Hausmeisterin, oder Freunde, oder sonst wer. Sie richten sich auf, fangen an zu lächeln und fragen nach ihm, und in der Frage steckt so viel Zuneigung. Das macht mich sehr glücklich und stolz.

Der Satz “My incognito is exploded” passt genau. Kinder sind ein Paradoxon: Je größer sie werden, desto schwerer kann man sich hinter ihnen verstecken. Muttersein ist ein Inkognito, hinter dem sich der Rest der Frau ganz gut verbergen lässt. Aber wenn die Kinder erwachsen werden, verliert man seine Deckung. Da nützt das ganze Klammern nichts. Man muss sich ungedeckt der Welt stellen. Hat man allerdings – wie ich – einen so spannenden, eigenwilligen Sohn, der einem dabei zur Seite steht, dann ist alles gut.

Alles Gute, mein Schöner. Ich bemüh‘ mich, versprochen.     

 

Originaltext Juli 2007, adaptiert im Dezember 2013

Nur grüner und stacheliger

Wieder schreibe ich nichts über meinen Sohn, auch wenn Sie sagen: Zeit wär’s und überhaupt, was macht er so und wie geht’s ihm denn, und obwohl er natürlich immer noch mehr als genug Stoff für Kolumnen liefert, schreib ich trotzdem nix und dafür gibt es einen Grund. Lieber erzähle ich Ihnen, dass es lustig ist, mit der Bahn zu fahren, etwa mit der Linzer Lokalbahn, wo der Schaffner dem Lokführer bei der letzten Haltestelle „Vorrücken!“ zuruft, wie ein General seiner Armee, und dann rücken wir vor, die bäuerlichen Heerscharen aus dem Eferdinger Becken gegen die Hauptstadt aus Stahl.

Ich weiß, mit dem Krieg soll man nicht spaßen, darüber ließe sich diskutieren, aber immer ist es ja auch nicht lustig, das Bahnfahren, etwa wenn ein kleiner Junge grad reden gelernt hat und die paar Worte, die sich in seinem Köpfchen sinnhaft formen, probehalber in den halbleeren Wagon plaudert, die Oma das aber nicht möchte und dauernd „Psst“ sagt. Psst. Und dass die Eisenbahn böse werden würde, wenn er nicht folgt. Und dass der Herr Schaffner böse werden würde, und dann würde der Zug stehenbleiben und man dürfe nicht mehr mitfahren, das wäre schön dumm, gell?

Fast hätte ich zur fremden Oma „selber Psst“ gesagt, quasi in Stellvertretung für den Kleinen, der zu soviel Schlagfertigkeit noch heranreifen muss. Aber nach dem gedanklichen Durchspielen aller möglichen Konsequenzen ließ ich es doch bleiben. Bin ich nun friedliebend oder konfliktscheu? Womöglich gibt’s da gar keinen Unterschied. Jedenfalls haben mich alle lieb. Sogar die, die nur so tun.

(Jetzt hätte ich gerne ein Stück Schokolade. Nie hat man Schokolade dabei, wenn man sie braucht.)

Was könnte ich Ihnen noch erzählen? Vielleicht, dass ich mich vorhin in Linz in den falschen Zug gesetzt habe, in einen, der ganze zwei Stunden nach Wien braucht und nicht eine Stunde vierzig und überall stehenbleibt. Nicht überall. Aber fast. Das ist zu langsam, ich mag es gern schneller, auch der Text hier sollte ein schneller sein, einer, der über die Seiten rast und um die Kurven fliegt, dass es nur so quietscht und rumpelt, damit Sie sich anhalten müssen beim Lesen und Schutzbrillen tragen und all das Zeug und es in Ihnen nachher noch ein wenig weiterrast, obwohl ich längst wieder weg bin.

Das mache ich mal, aber ich glaube, heute ist eher der Tag für ein Fahrtenspiel, oder wie heißt das, wenn man beim Laufen das Tempo variiert? Weil, gelaufen sind wir heute auch schon, am Vormittag, durch den Auwald, allerdings immer gleich gemächlich, mit vom weichen Waldboden gedämpften Schritten. Immer ruhiger sind wir dabei geworden, ganz andächtig still war es zwischen uns und den Bäumen und dem gebündeltem Licht. Wenn man in so eine grüne Tanne schaut, und der Wind bewegt die Äste sachte auf und ab, dann ist das ein bisschen wie Meer, nur grüner und stacheliger.

(Man muss übrigens nicht immer Urlaub am Meer machen. Ich war vor kurzem drei Wochen in Florida und in diesen drei Wochen genau dreißig Minuten am Strand von Daytona, von diesen dreißig Minuten ganze drei Minuten bis zu den Waden im Atlantik, und das war’s dann mit Meer, obwohl man bei Florida den Strand gleich mitdenkt, und der Zug bleibt schon wieder stehen, verflixt.)

Hoffentlich setzt sich niemand in mein Abteil, ich habe die Schuhe ausgezogen und immer noch die Laufsocken an, und zugegeben, in meinem Kopf ist es eher konfus heute, aber nachdem mir durchaus lobend mitgeteilt wurde, dass manche meiner Texte gut für Depressionen sind (gut in dem Sinn, dass es dann den Depressionen gut geht), werde ich einen Teufel tun und was Trauriges schreiben, statt dessen habe ich Sie mitgenommen in den Zug und in den Auwald, sogar in Daytona waren wir kurz und haben die Füße in den Atlantik gesteckt, und bald sind wir zu Hause in Wien, wo ich stellvertretend für uns alle ein Stück Schokolade essen werde, jawohl.

Dann werde ich Ihnen gute Nacht wünschen und die Tür zumachen, obwohl mir jetzt tausend Geschichten über meinen Sohn einfallen würden, Erinnerungen an die erste gemeinsame Zugfahrt in eben jener Linzer Lokalbahn, die schon meinen schwangeren Bauch durch die Gegend geschaukelt hat, und so weiter und so fort, aber ich erzähle heute nichts über meinen Sohn, weil, und das ist der Grund: Weil der so großartig erwachsen wird in letzter Zeit. Ganz ohne mein Zutun, immer dann, wenn man nicht hinschaut. Deswegen.

Gäbe es diesen VHS-Kurs, ich hätte ihn besucht

Sind Ihre Kinder, sofern vorhanden, noch in dem Alter, in dem sie im Schlaf rotieren wie die Kreisel, und das, wohlgemerkt, erstens im Tiefschlaf und zweitens nicht im eigenen Bett? Sondern in Ihrem. Dabei ist es ganz egal, wie breit es ist, das Bett: Bei der 90-Zentimeter-Schmalspurversion schrammt sich irgendwann nach Mitternacht ein spitzer Kinderellbogen in die elterliche Seite, in der Luxusausführung liegt halt das ganze Kind quer.

Meins nicht mehr, weil meins (ätsch) ist fast erwachsen und beschränkt den Kontakt zum Mutterschiff auf das versorgungstechnische Minimum. Ich muss mir mein Nachtlager nur mehr ab und an mit diversen Liebhabern teilen, wobei es sich eh bloß um einen handelt, den Kurden. Dem ist im Winter allerdings immer sehr kalt. Daher sieht er mich mehr als Thermophor denn als Lustobjekt, und glauben Sie mir: Wenn sich so ein frierender Kurde an einen kuschelt, muss das nicht unbedingt ein erotisches Highlight nach sich ziehen.

Der Kurde friert außerdem nicht nur ständig, er hat es auch mit dem Kreuz und zieht daher einer schönen weichen Matratze ein Eichenholzbrett mit Matratzenschoner vor. Und da meine alte, ausziehbare Couch einem solchen Brett durchaus entspricht, übersiedelte mein riesiges, wunderbares Bett vor Jahr und Tag ins Zimmer meines Sohnes und der Kurde und ich zogen auf die Couch.

Hartes Liegen für Fortgeschrittene. Gäbe es diesen VHS-Kurs, ich hätte ihn besucht. Mein Problem ist nämlich nicht das Einschlafen, sondern das gleichzeitige Aufwachen aller Gliedmaßen. Mal ist das Bein nicht bei der Gruppe, dann der Arm. Unangenehm. Außerdem hat die Couch einen Spalt in der Mitte und in dem Spalt meistens auch mich, weil sich der Kurde auf der Suche nach Wärmequellen nicht an territoriale Abkommen hält, geschweige denn an Etikette.

Dabei bin ich, was Betten anbelangt, nicht sehr verwöhnt. Obwohl: Das Highlight waren die dreiteiligen Federkernmatratzen meiner Großeltern. Als mein Opa gestorben war und meine Schwester in einem Internat verschwand, übersiedelte ich kurzerhand zur Oma (vom zweiten in den ersten Stock) ins uralte Ehebett. Eigentlich in die Matratzenkuhle im Ehebett. Das war eine Grube, ein Graben, ein Nest, der ideale Zufluchtsort für ein von Werwölfen verfolgtes Wesen wie mich, daneben das regelmäßige Schnarchen der Oma. Ich glaube fast, das war der Höhepunkt nächtlicher Geborgenheit in meinem Leben.

Obwohl, einen kleinen Schreihals auf dem Bauch liegen zu haben und mit ihm gemeinsam (vor Erschöpfung) einzuschlafen, das hat auch was. Ist allerdings schon gut 17 Jahre her, genauso wie die Oma schon lange tot ist, und dazwischen liegen noch andere Tode, vornehmlich von Beziehungen, eine davon verschied übrigens direkt nach der Fertigstellung eines Bettes Marke Eigenbau. Aber, wie immer, die Sehnsucht bleibt. Nicht nach einem selbst geschnitzten Bett, sondern nach einem Rückzugsgebiet à la Matratzenkuhle, besonders, wenn man aus dem Fenster schaut. Oder Nachrichten schaut, oder Fernsehen, oder in leere Gesichter in der U-Bahn. Das reicht völlig.

Dann schaut man auf das versiffte Schlafcouchbrett, das zwar eine Ritze hat, aber keine Kuhle. Und will ein Bett. Ein richtiges. Eines, das einen verschwinden lässt von Zeit zu Zeit, das sich in ein wabberndes Meer verwandelt, wenn man sich umdreht, eines, bei dem man einen kleinen Abhang hinunterkullert, wenn sich jemand neben einen legt, der schwerer ist als man selbst. Aber auch eines, in dem man den Horizont noch sieht aus der Bauchperspektive, besonders in einsamen Nächten. Man kommt sich so schnell verloren vor. So verloren, dass man sich fast wieder einen kleinen lebenden Kreisel wünscht, der gelegentlich vorbeischaut und einem die Beinchen in die Rippen stemmt.

Aber nur fast. Diese Anfälle gehen, gottlob, schnell vorbei. Weil, soviel steht fest: Ich brauch keinen neuen Sohn, sondern ein neues Bett. Und eine Kuhle. Aber die mach ich mir selbst.