Kind sein, nein danke
30/04/2008
Erwachsenwerden tut nicht weh
Mein Gegenüber will nicht ganz erwachsen werden, weil das tue weh. Schwachsinn, sag ich, nicht das Erwachsenwerden tut weh, sondern das Kind bleiben. Was haben die Leut‘ nur alle mit dem „bewahr dir was Kindliches?“ Sie behaupten, im Herzen Kind zu sein und sind’s stattdessen nur im Kopf.
Diesen Kopf neigen sie zur Seite, sehen dich verklärt an, zitieren Saint-Exupéry und schwärmen von den unschuldigen Spielen der Kinderzeit. Damals wären sie Cowboy gewesen oder Prinzessin im Fasching. Und heut‘ sind sie – ganzjährig – Schamane oder Hexe. Oder Experte für Familienaufstellung. Für „die richtige Ordnung“.
Nimmt man ihnen ihr Spielzeug weg, stampfen sie mit den Beinchen. Sie schwärmen für die depperte blonde Ärztin bei „Grey’s Anatomy“, die emotional noch nicht einmal Volksschulreife erreicht hat. Oder für die andere, die sich aufführt, als hätte die Halbschwester ihrem Teddy ein Ohr abgerissen. Jetzt darf niemand mit der blöden Kuh reden. Wer es tut, ist nicht mehr ihre Freundin, ätsch.
Das Kindsein ist grad sehr en vogue. Also was? Das sich in einer Phantasiewelt verlieren? Als Mädel war mir der Schotterparkplatz hinter dem Haus mit seinen mannshohen Stauden ein Königreich, in dem ich den Sommer verbrachte. Sobald die Zeugnisse verteilt waren, hockte ich auf der Mauer unserer alten Terrasse. Die Schwalben über und acht Wochen Ferien vor mir. Um auf diese Terrasse zu kommen, musste man über eine dunkle Stiege in der Holzhütte – und damit war der Zauber schon beendet. Weil man sich da ordentlich fürchten konnte. Vor Ratten und Mäusen, oder Spinnen. Oder sonst was, man war mit Phantasie gesegnet.
Wenn die Leute sagen, sie möchten sich ihr Kindsein bewahren, welchen Teil davon meinen sie genau? Vielleicht den mit den dunklen Treppen und den ungelösten Geheimnissen, den noch fehlenden Zugang zu rationalen Erklärungen und den damit verbundenen Ängsten?
Oder vielleicht vermissen sie die erlaubte Fremdbestimmung. Das sich Hingeben in die Verantwortung eines anderen. Ich sag dir, was du zu glauben hast. Wann du zu schlafen hast. Was du zu essen hast. Welches Talent du hast. Was dein Wert ist. Welche Farben dir stehen, welcher Haarschnitt. Sie sagen dir, ob du ein gutes Kind bist. Oder ein schlimmes. Ein fleißiges, oder ein faules. Ob du egoistisch bist oder selbstlos. Wobei egoistisch immer schlecht ist und selbstlos immer fein. „Prägung“ nennt man das. Korrigieren Sie mich, wenn ich entwicklungspsychologisch daneben liege.
Ich würde das ja eher „Image“ nennen. Schauen Sie sich um in Ihrem bekinderten Bekanntenkreis, wie viel Nachwuchs Erwartungen entsprechen muss, die Erwachsene in ihn setzen. Und, im Gegenzug, wie viele Söhne und Töchter einfach ausprobieren können, ohne gleich einen Stempel auf der Stirn zu tragen. Eine perfekte Vorwärtsrolle: Sportlerin. Eine kleine Serie schöner Wachskreidenzeichnungen: Künstler. Dreimal in Folge keine Lust auf Karotten: Gemüseverweigerer. Ab und zu nicht gefolgt, sondern in Frage gestellt: Schwieriger Mensch.
Natürlich muss man so einem Image entsprechen, wenn man dadurch Gegenstand der Aufmerksamkeit bleibt. Kinder, davon bin ich überzeugt, sollten nebenbei aufwachsen können, wie Unkraut in einem sicheren Garten, als akzeptierter Teil des Ganzen, aber nicht als Mittelpunkt der Welt. Diese Rolle ist zu heftig, und auf Podesten wird es schnell einsam.
Und: Einem Kind kann man alles erzählen. Zum Beispiel die Sache mit der Erbsünde. Adam und Eva sind früher dran als Darwin. Voll Staunen hört man die Geschichte vom Paradies, fortan sind alle Schlangen falsch und alle Frauen Schlangen.
Wobei wir wieder am Anfang wären. Ich habe mich ein wenig in Rage geredet. Versteh mich richtig, sag ich zu meinem etwas im Liebesleid verhafteten Gegenüber. Meine Kindheit war eine gute Zeit. Aber danke, abgehakt. Den Schotterparkplatz mit den hohen Stauden gibt’s nicht mehr. Ich könnte dort jetzt parken, wenn ich ein Auto hätt.