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Bei der Weibsbilder-Vernissage – wunderbar geborgen zwischen meiner Schwester (Ursula Ecker) und meinem Bruder (Christoph Peschka). Zwei Filzdamen von Daniela Gauder schauen uns über die Schulter.

Nachschau zur wunderschönen Weibsbilder-Vernissage der Eferdinger Künstlerinnengilde. Die gehaltene (oder eher wohl: vorgelesene) Rede wird, wie versprochen, noch nachgereicht. Vorher muss sie, wie jeder Text, ein wenig liegenbleiben. Jahrealt und gut gereift ist aber der Text vom prallen Weib, vor Ewigkeiten als Ö1-Kolumne geschrieben, als Abschluss der Eröffnungsrede wiederverwertet und hier noch einmal neu verlinkt: Ein pralles Weib will ich sein. (Innen wie außen)

Tell him…

29/09/2010

Die Hoffnung aus Österreich

Den Nachmittag hatte ich in der Stadt verbummelt, war also recht spät unterwegs am Abend, vom Hotel (in der Nähe der Victoria Station), runter zur Albert Bridge, dort ein paar mulmige Momente wegen der engen und einsamen Fußgängerschleuse der für den Autoverkehr gesperrten Brücke, dann von Absolute Radio mit einem 80er-Jahre-Spezial auf Lauftempo gebracht, rund um den dunklen Park getrabt, zurück über die Chelsea Bridge zum Hotel. Das sich fest in pakistanischer Hand befindet.

Kamran, Front-Office-Mitarbeiter mit Migrationshintergrund, lächelte meinem roten Kopf gütig zu. Uns verband ein Erlebnis, in dem ein älterer Italiener und eine zerknitterte Hose eine Rolle spielten. Der Zufall spülte uns zusammen: Ich wartete auf die Rechnung (Barzahlung am ersten Abend ergab Rabatt), der Italiener baute sich neben mir auf und wortschwallte italienisch erst auf Kamran und dann, weil der nichts versteht, auf mich. Ich, neugierig geworden (zum Italiener): You don’t speak Englisch, do you? Italiener: No! Ich: Francais? Er: No! Ich: Deutsch? Er: No! Ich zu Kamran, ob er nicht jemanden holen könne, der Italienisch spricht. Kamran: No! Den Rest des Beitrags lesen »

Im Schweigeraum des Vaters

Gegenüber hockt eine Taube im Abendlicht gerade so hinter der Dachkante, dass nur ihr gedrungener Oberkörper zu sehen ist. Sofern Tauben Oberkörper haben. Sie sieht sich die pfeiligen Schwalben an, folgt ihnen mit Kopf und Schnabel. Drei Äpfel liegen neben mir auf der Holzbank, erst dachte ich, sie wären so duftig, dann war es doch der ganze Garten. Ob die Tauben hier weniger grauslich sind als in Wien? Gegenüber, am Hausdach, wird ein Kopf eingezogen.

Ob hier alles weniger dreckig ist, ich selbst eingeschlossen? Ich sitze (wieder einmal) im Garten der Eltern, mit Taube und der üblichen Katze und schreibe, was ich seh.

Spitzwegerich und Breitwegerich, zum Beispiel. Wenn Sie eine Bremse beißt, eine Gelse sticht, dann zerdrücken Sie das Kraut ein wenig und verreiben den Saft auf dem Dippel. Soll helfen. So geschehen heute, beim Wandern mit Eltern und Bekannten, im sauberen Stodertal neben dem klaren Wasser der Steyr. Der Bremsenbiss lässt mein Handgelenk etwas anschwellen, was die Suche nach dem einen oder dem anderen Wegerich auslöst, ich fühle mich wie ein umsorgtes Kind, was passt, denn heute bin ich die Jüngste. Den Rest des Beitrags lesen »

Alles katzt heute

10/06/2010

 Oder: Das Band, das Band, an meiner Hand …

Jetzt wird alles ruhiger, die Sonne ist fast ganz weg. Die Katzen auch. Darunter die eine, die an nackten Zehen kaut, wenn man sie lässt. Ein paar Schwalben sicheln sich noch durch den Himmel. Mücken umzingeln den Tisch, die Blumen schließen für die Nacht. Eine Amsel lärmt quer durch den Garten, und über mir fliegt etwas, das wie ein Reiher aussieht, vorsichtig ostwärts, als täten die Flügel weh. Vorhin, im Abendsonnenschein, noch zum Bruder geradelt, durch dessen Zaun gespäht, keiner daheim außer den Molchen im Teich und den Wasserläufern auf dessen gründunkler Fläche, und wieder zwei Katzen, die sich vor mir auf den Boden werfen. Alles katzt heute.

Langsam, langsam nach Hause. Verwunschene Welt. Zurück zu den Eltern, kurz zwischen den Feldern Halt gemacht, stehen geblieben, dem Weiden-Schneefall zugesehen, dem langsamen, stillen Sinken der Weiden-Watte gelauscht, im Gegenlicht, versucht, das zu fassen und gewünscht, es möge drinnen in einem auch so aussehen, so langsam und still und licht und warm und wattig.

Und jetzt, im Garten, kurz vor dessen Betriebsschluss. Beobachtet von einer fremden Katze, die mit untergeschlagenen Pfoten im hintersten Eck lagert, es ist die „hässliche“ (wie mein Vater sagt), wir kennen sie nicht so genau. Das Lederarmband am linken Handgelenk stört fast gar nicht beim Tippen.

Das Armband trage ich seit ein paar Tagen, gekauft in Wien, danach gleich ein zweites gekauft für die Schwester, weil mein Armband hat eine Botschaft (das der Schwester eine andere), an die es mich erinnert, wenn ich hinsehe, wenn ich es anlege, wenn ich es spüre und dann auch am Abend, wenn es vom Arm genommen wird. Das funktioniert. (Ein kleiner Mückenschwarm zentriert sich vor dem Bildschirm, zerstreut sich und kommt wieder.) Es sollte ja um das Lederband gehen in diesem Text, und darum, was es mir immer wieder sagen soll. Nur drängt sich jetzt der Garten dazwischen.

Wir haben Zeit. Hinter mir blüht ein Topf voller Margeriten, und ich muss immer hinsehen, weil die Farben weniger werden, aber es finden sich noch welche. Das Weiß und Gelb der Margeriten, dunkles Blaulila der Leberblumen (wenn die so heißen), sattes Lilalila einer Wickenart und das siebenfärbige Rot der Fuchsien. Ein grüner Salatkopf, der blaue Plastikpool und die gelben Kugelstrauchblüten. Es gab auch noch einen glühenden Wolkenfinger, in die Sonne gestreckt, aber der ist jetzt weg. (Die Katze ist noch da.)

Mein Handy liegt auf dem orangen Tischtuch, das werde ich bald zusammenfalten, und, klein-geachtelt (es ist kreisrund), mit dem Sessel bei den Rädern verstauen. Dort ist auch der Rasenmäher und das Werkzeug und ein kühler Grasgeruch. Früher war das eines der Tischtücher unseres Gastgartens, da war das Wirtshaus noch in Betrieb, und der Tisch stand mit anderen Tischen unter der Pergola zwischen Oleanderbüschen. (Die Geräusche werden auch spärlicher, dafür die Mücken mehr. Die Nachbarin werkt im Garten und summt dabei.)

Damals war mein Sohn noch klein. Einmal ist er im Gastgarten gestolpert und hat sich nah am Auge ein wenig weh getan. Ich nahm ihn in den Arm, und weil es geblutet hat und wir uns Sorgen machten, sind wir nach Wels ins Krankenhaus gefahren. War dann nichts Schlimmes. Es gab Schlimmeres. Etwa den Unfall mit seinem Vater ein paar Jahre später, unverschuldet, mit viel Glück von beiden fast unbeschadet überstanden.

Ich zupfe dem geschlossenen Sonnenschirm ein paar Falten zurecht. Es wäre einfach, das Handy zu nehmen und ihn anzurufen, also meinen Sohn, der sich vor gut 18 oder 19 Jahren nah am Auge verletzt hat und dann einen schlimmen Unfall überstanden hat und noch anderes, ein Mal war die Hand eingegipst, dann waren da die Schulen und die Lehre und die Sehnsüchte, und ich könnte ihn schon anrufen, aber ich tu es nicht. Hier, im Garten, der seine Farben und Geräusche abdämpft und in den Schatten hinter der einen Solarsteckleuchte tritt.

Mein Vater hat die Hecke übrigens ganz bucklig geschnitten. Ich mag das. Und gestern, als ich meine Mutter nach dem Gelsenstecker fragte, synchronisierte ich perfekt und spontan ihre übliche Antwort: Es gibt doch noch gar keine Gelsen.

Der Himmel wolkt. Es ist ganz windstill. Und natürlich rufe ich meinen Sohn nicht an. Er ist in Wien geblieben. Er arbeitet, er lebt, er macht. Ich trete einen Schritt zurück. (In den Weiden-Watte-Schneefall zwischen den lichten Bäumen.) Das ist, als würde man eine zentnerschwere Tür öffnen wollen, einen kleinen Keil hineintreiben, damit sie offen bleibt, und den Spalt dann vergrößern, nach und nach. Ich möchte. Ihn endlich aus dieser Mutterklammer entlassen. Das erdrückt uns beide. Und deswegen, und weil er es sich verdient hat, und weil ich es mir verdient habe, dieses sauschwere Loslassen, sagt mein Armband mir (jetzt kommt’s raus): Ich habe einen erwachsenen Sohn.

Immer wieder. Bis es mir ganz klar geworden ist. Und ihm auch. Wie sonst soll das gehen.

Ich starre in den dunklen Garten. Die Katze ist weg. Sie raunzt beim Nachbarn. (Ich nehme an, dort ist mehr los.)

Zwischen uns

28/02/2010

Jahre und nichts

A. sitzt mir gegenüber. Am anderen Ende des Raumes, auf dem Teppichboden, wie ich den Rücken an die Wand gelehnt. Wir sagen nichts, wir sehen uns an. Wir sehen in uns hinein, ernst, ruhig, jeder für sich. Das möchte ich. A. war aus der Welt und jetzt ist er wieder in ihr. Er war verschwunden. Im Regal steht ein Bild, das er mir geschenkt hat. Wann, weiß nicht, vor vielen Jahren. Eines dieser persischen Bilder, eine gemalte Miniatur, reitende Krieger. Wo ich hinzog, war das Bild bei mir. Anfangs noch mit A. behaftet, dann einfach nur etwas. Aus der Vergangenheit. Die es nicht gibt, diese Vergangenheit, die sich im Grunde neben uns erstreckt und zwischen uns dehnt und das Weltall aus den Angeln kippt, wenn plötzlich, nach so langer Zeit, jemand wieder in deine Welt kommt, und glauben Sie, das war heftig, als ich das Mail im Posteingang fand: Bist Du das, stand da, bist du diejenige, welche? Damals, im Zug von Wien nach Linz?

Damals, im Zug von Wien nach Linz, die Zigarette, die ich nicht geraucht habe, aber dafür die ersten Pistazien meines Lebens gegessen. Noch keine zwanzig, noch alles neu, grad die Zeit, wo man pure Kraft ist, wo unter der Haut nichts ist als Muskeln und Energie und dazwischen ein See gemischt mit Traurigkeit und Lebendigkeit im Verhältnis 1:1, die Lebendigkeit lässt dich jubeln, und die Trauer, diese alte Seele, lässt dich innehalten und schauen und spüren, so weit ist alles, so weit. Dir sitzt im Abteil ein junger Mann gegenüber, der vor Heimweh vergeht, trotzdem in Wien studiert, aber. Eben auch jemanden braucht, an dem er sich festhalten kann. Du bist jung und kraftvoll, sagst: Halt dich nur, an wem sonst, wenn nicht an mir. Weil, die Neugier macht dich ganz unrund, mit schiefem Kopf schaust du den Fremden an, der Jagdinstinkt geweckt, deine Sammelleidenschaft, wenn du ehrlich bist, hat das früh begonnen, dieses Sammeln von Menschen, die besonders sind.

Besonders. Wir schreiben uns, besuchen uns, Bilder flackern auf, seine Hände beim Kochen, das Joghurt zum Reis und nichts ist zwischen uns als Zuneigung und Achtung. Dann kommen die Briefe aus Deutschland, später aus dem Orient, das mit arabischen Schriftzeichen bedruckte Kuvert auf dem roten Tischtuch, auch so eine Erinnerung. Zwei, drei Jahre lang, ich werde Mutter, er studiert in seiner Heimat, schreibt eines Tages: Ich werde heiraten. Kleine, mit Spitzen umhäkelte Deckchen für seine Frau als Hochzeitsgeschenk, sorgfältig verpackt, ein Brief mit guten Wünschen, das wäre doch, denke ich mir, das Ende seiner Einsamkeit, die Ankunft dort, wohin er sich gesehnt hat, und dann wird es still um ihn und um uns.

Das Bild zieht mit, ein kleiner Kern A. zieht mit, wohin auch immer, die Freundschaften kommen, manche verblassen, die Lieben kommen und gehen, mein Sohn wird groß, die Muskeln unter der Haut sind nicht mehr aus Stahl, dafür aber echt. Das Verhältnis von mit Trauer gemischter Lebendigkeit verändert sich mehr oder weniger, im Grunde bleibt es gleich. Noch tiefer, noch ruhiger, und das Sehnen rüttelt dich nicht mehr ganz so unverhofft aus der Spur. Meistens.

Allerdings. Wenn dann jemand, der aus deiner Welt war und, fast fünfundzwanzig Jahre später, unvermittelt wieder mitten in deiner Welt ist, du öffnest das Bild im Mail-Anhang und mit dem Bild steht dieser junge Mann vor dir, hinter dem grauen Bart und den grauen Haaren steht dieser junge Mann und sieht dich an – wow, das ist wie ein Zeitsprung, und in dir klickt sich wieder die an die Oberfläche – diejenige welche – die du ja auch warst und im Grunde immer noch bist, die mit den harten Muskeln direkt unter der Haut, die mit der immensen Kraft und dem Hunger nach Leben und Weite und den weitoffenen Armen, groß genug, um fünf Welten zu umfassen, ja, genau die.

Dann staunst du. Oder? Und sehnst dich und wunderst dich über das Sehnen. Nein, du wunderst dich nicht darüber. Sondern, wie gut man das zur Seite schieben kann und wie unerträglich gut es sich anfühlt.

Deswegen. Kommt es mir so vor, als würden A. und ich im selben Raum sitzen. Jahre zwischen uns. Nichts zwischen uns. Und uns ansehen. Ruhig. Sein ernstes Gesicht auf meinem und meines gespiegelt in seinem. Im Ansehen betrachten wir uns selbst, erkennen die eigenen Gedanken im anderen.

Unterm Dach und im Keller

Nackt könnte man sein. Das Haus schläft noch tiefer als sonst, ihm reicht ein Atemzug alle paar Tage, ein Blauwal am Meeresgrund und du in seinem Herzen. Die Wilde Jagd zieht übers Land, draußen das Wütende Heer. Drinnen, da Raunacht ist, das rituelle Räuchern. Sanft. Besänftigend.

Du stehst da, im alten Bügeleisen glüht noch Kohle, Weihrauchkörner glimmen. Ein Jahr um, gibt nichts Neues zu schreiben. Gilt, das Alte immer wieder zu schreiben, weil es wahr ist. Hier im Keller könntest du nackt sein und allein, wirklich allein. Die vielhundertjährigen Mauern wölben sich über dir, und in dir wölbt sich auch etwas. Spinnweben bewegen sich leicht im schweren Rauch.

Später als sonst bist du heuer gekommen und hast dich nicht über die Angst gewundert, die mitkommen will auf dem langsamen Gang durch das leere Haus. Ist schon Nacht, du bereitest alles vor. Die Glut, den Weihrauch. Dich. Früher, als du noch ein Kind warst. Da waren Seelen, die flüsterten. Etwas schlich vor dir über die Holztreppen und schlüpfte in Nischen, wesenlos an kalte Wände gedrückt. Heute hält sich Kinderangst an deiner Jacke fest. Während du alle Zimmer durchwanderst. Die Stille ist dicht und kühl. Sie hebt sich kurz, wie ein Tuch, und sinkt hinter dir wieder zurück.

Du bleibst im alten Wirtshaussaal vor dem Bild der Großmutter stehen. Ihre Augen sind die deinen. Du greifst ein wenig zu ihr hinüber. Hinüber oder zurück. Das Kinderzimmer mit dem Fenster zum Dachboden, der hohe Dachboden selbst. Du bist dir sicher, nicht allein zu sein. Trotzdem, bleib da. Versuche, ruhig zu werden, denkst du. Egal, was dich aus den Schatten im Gebälk beobachtet.

Und dann gelingt das auch. Immer an dieser Stelle. Das Bügeleisen raucht vor dir auf dem steinernen Boden. Alles, was je in diesem Haus gelebt hat, ist leises Gespinst, flüchtig vorhanden. Die Geschichten der Großeltern, die Franzosen, die hier interniert waren mit ihren grauen Soldatenröcken. Der Nazi, der aus einem der Fenster die Großmutter mit einer Pistole bedrohte, als sie über den Hof ging. Der Mann, der sich zur Weihnachtszeit umbringen wollte, aus Kummer, von den Seinen getrennt zu sein. Ohne Hoffnung. Die vielen Familien, die sich die Zimmer teilten. Die Onkel und Tanten und der Hund Jumbo, der beste Rattenfänger der Stadt. Es gab noch Schweine im Saustall und Kraut in der Krautkammer und Verstecke für geheime Vorräte, die mein Vater und seine Brüder besorgten.

Das war vor deiner Zeit und ist doch deine Zeit, durch die Geschichten am Stammtisch, die Erzählungen der alten Männer beim Schnapsen, und damals gab es ohnehin nur den Krieg für die einen und das Durchkommen für die anderen. Aber heute steht das Geisterreich offen in unserem leeren Wirtshaus. Der Großvater hatte es in den Dreißigerjahren gekauft, weil seine Frau das so wollte. Zugereiste waren sie, er verdiente früher in Salzburg als Küchenchef mehr als ein Hofrat, hieß es. Hier, in der Kleinstadt, blieben sie und ihre Kinder (auch die später geborenen) immer irgendwie Zugereiste, und das war auch gut so.

Das machte dir das Weggehen leichter. Waren nur mehr wenige der dünnen Wurzeln übrig für dich. Aber die sind zäh, im harten Erdboden des Kellers vergraben. Wo du jetzt stehst, wie jedes Jahr, älter, und immer noch gruselt es dich ein wenig, wenn sich Modergeruch mit Weihrauch vermischt. Die Granitsteine glitzern im dünnen Licht, und wenn du mit nassem Finger über sie streichen würdest, würden sie nach Salz schmecken. Ganz, ganz still ist es hier unten, im Innersten der Angst, die im Grunde keine ist. Oder?

Wie voll muss die Vergangenheit sein, dass du immer wieder in sie zurückkehrst. Wie dichtgewebt. Hält dich das auf oder hält dich das aufrecht? Deine stolze Großmutter, wie gern wärst du wie sie. In deinem Sohn erkennst du den Eigenwillen des Großvaters, ein wenig von dessen Unnahbarkeit. Genug, um zu wissen: Da setzt sich etwas fort.

Ist das gut? Das Haus schläft. Nackt könntest du hier stehen, nichts würde passieren während deiner Reise zurück. Die Wilde Jagd, das Wütende Heer zieht übers Land und tobt sich aus. Ja, das ist gut so. Diese Fülle ist dein Reichtum, diese Schwere dein Anker. Prall soll es sein, das Leben.

Es genügt jetzt. Ein Mal im Jahr darf man so fühlen, darf sich etwas wiederholen. Du gehst noch durch das dunkle Vorhaus in den Hof bis zum Tor und stellst das Bügeleisen im Freien auf den Boden, an einer sicheren Stelle. Das Erlöschen der Glut wartest Du ohnehin nie ab.

Muscheln und Steine

15/11/2009

Man trägt Getöse durch die Stille

Wieder sollte es ruhiger sein. Was treibt, ist die Sehnsucht, was bremst, ebenso. Ruhig geht man durch die Straßen, durch den Morgen, den Schlaf im nachtschweren Nacken, grau innen und grau außen mit schwarzen Rändern. Die sich auflösen sollten, denkt man und dann gleich: Bitte nicht. Bitte nicht auflösen, weil in einem töst es grell, in orangegelben Farben, die drängen sich unter der Haut und machen beides, warm und unruhig. Man trägt Getöse durch die Stille. Nicht umgekehrt sich selbst still durch eine laute Welt.

Ich warte auf einen Freund, jetzt, am Abend, im Cafe Ritter, bald wird er kommen. Wir werden darüber sprechen, wie es uns geht, vor allem, wie es ihm geht. (Ich versuche, mich auf diesen Text zu konzentrieren, der ungeduldig neben mir steht und sich nicht einfangen lassen will. Seit die Abstände zwischen den Kolumnen so groß sind, fällt das Schreiben nicht mehr so leicht, vorher war es ein leises Auf und Ab, eine Wellenbewegung am Strand, ein innerer Moll-Ton, der kam und ging und nie ganz weg war. Das hat sich verändert. Ich warte auf den Bus, der mich zum Strand bringt.)

Jetzt. Bin ich auch Studentin, mein Sohn ist groß und ich packe noch mehr in mein Leben, will noch mehr von diesem grellen Getöse, weil, das ist das Geheimnis: Ab und zu wird es mitten drin ganz still. Das ist die Essenz, die Potenz der Stille und wer die kennt, will mehr. Vor allem ist das ein Teil der Fülle.

Wenn der Freund kommt, wird er Kopfhörer tragen und einen leicht zugespitzten Mund, oben die Schultern angehoben und unten mit großen Schritten das Lokal durchmessend. Er wird die Hände in den Taschen haben, und bevor er mich zur Begrüßung auf die Wangen küsst, kurz nach links oder rechts schauen. Dann wird er „Mm“ machen, ein ganz kurzes, abgehaktes, sehr liebes „Mm“, eher hoch, obwohl er keine hohe Stimme hat. Aber das macht er immer so. Damit meint er vielleicht, ich will dir nix Böses. Danach hat er einen schmalen Mund.

Immer, wenn ich aufblicke, verändert sich das Bild. Vorhin saßen drei Männer schräg gegenüber, nun sind daraus zwei Frauen geworden, beide mit dicken Pullovern und Pferdeschwanz. Daneben sitzt eine alte Frau mit rosa Pullover, grauer Igelfrisur und einer Brille auf der Nase. Sie liest und notiert. Der Ober serviert ihr etwas, das auf die Distanz wie ein Beuschl mit Knödel aussieht.

Das aßen bei uns im Wirtshaus die Männer beim Frühschoppen. Ein kleines oder großes Beuschl, Würstl mit Senf, Kren, einen Einspänner, Debreziner. Wir kannten die Männer schon, und ihre Frauen, die an einem eigenen Tisch saßen, und mussten nicht mehr fragen. Das war auch Familie. Damals, im Faltenrock Teller durch das Gastzimmer jonglierend, damals waren die Farben hell und warm, die Gerüche und Düfte, es roch nach Kaffee bei der Schank und nach Bier, aber diese Erinnerung ist verblasst. In der Küche züngelte Feuer im alten Herd und folglich roch es nach Holz, wenn gerade nicht gekocht wurde. Ich überlege, ob das damals schon so war, mit dem inneren Lärm. Mein Problem war eher, Strumpfhosen ohne Laufmaschen zu finden, rechtzeitig zum Frühschoppen fertig zu sein und wieder nicht gelernt zu haben.

Ich muss mich beeilen, der Freund wird bald kommen, bis dahin sollte der Text fertig sein, der wohl mehr eine lose Sammlung ungewaschener Muscheln und Steine ist, mit Sand vom Strand dazwischen. Wenn wir geredet haben, wenn wir uns verabschiedet haben und nach Hause gegangen sind, wenn wir geschlafen haben und, mit den Resten der Nacht im Nacken, durch die kühle Stille des Morgens gehen. Was dann? Nichts. Grelloranges Getöse eben, Graffiti hinterm Solarplexus, Beats und Drums und wirklich laute Rhythmen und mitten drin ein stiller Fleck. Gut so. Ohne das wäre alles nichts.

Später, nach Mitternacht. Der Text ist nicht fertig geworden, aber zwischen vorhin und gerade eben, wo ich zuhause sitze, haben wir die Stadt angemalt, die Bäume blau, die Wände grün und den Himmel über uns, diesen dunklen, auskragenden leeren Himmel, mit sattem, tiefen Violett.

Langsam wird es ruhiger in mir und ein Nichts breitet sich aus im Raum, ein Nichts, in dem man gut schlafen kann, nachdem man noch eine Weile gelauscht hat, die Hand auf dem Bauch, auf die Geräusche von draußen, von der Straße, den Nachbarn, die durch ihre Zimmer wandern, Türen öffnen und schließen, leise Schritte. Und umgeben von diesen guten, lebendigen Geräuschen trägt man sich dann schlafend und still dem Tag entgegen und der Sehnsucht und dem, was einen drängt und treibt.

Am Ende ist nichts geordnet

Ich nehme. Meine Bücher, meine Bänke, meine Polstermöbel und werfe alles auf die Straße. Der Tisch fliegt hinterher, ein Drachen aus Holz, dem das Segeln nicht gelingt. Ich nehme. Die Bildung, die ich nicht habe, die Wörter, die mir fehlen, die Geduld, die sich verbirgt. Und stelle alles, in Müllsäcke verpackt, vor die Tür.

Draußen warten Bettler und Insekten, leere Plastikflaschen und Suppendosen, halbgeöffnet.

Ich nehme. Dich. Mitten im Zimmer lass ich dich stehen. Setze mich dann auf den Boden, an die Wand. Meine Hände fassen in den Staub von vielen Jahren, am Ende ist nichts rein, nichts geordnet. Was macht das für einen Sinn, wenn man nur von unten schreiben kann?

Draußen raschelt es, Bettler haben die schwarzen Säcke geöffnet, finden die Wörter. Probieren deren Geschmack am Gaumen, wie den von Wein oder Schnaps. Der eine sagt: Obsolet! Der andere: Quadratur! Und der dritte schweigt, weil er sich nicht traut.

Gestern saßen wir am Abend mit Freunden im weiten Gastgarten, nebenan drängte sich ein Pärchen aneinander, unübersehbar sehr verliebt. Ein hübsches Paar, recht jung und schlank. Er drehte sich zu uns um mit einer Frage. Sie wollten berechnen, sagte er, wie viele Gelsen es brauchen würde, um einen Menschen auszusaugen. So, dass er daran stirbt. Wir lachten und diskutierten sofort: Wie groß kann die Menge sein, die eine Gelse pro Stich entnimmt? Und der Stich selbst, der geht ja nicht tief. Also verbluten?

20.000 Gelsen! Das hätten sie so berechnet, sagte später der junge Mann vom Nebentisch. Nahm sein Mädchen und löste sich auf mit ihr in der warmen Nacht. Wir sahen ihnen nach, jeder für sich, die Köpfe geneigt. Natürlich stimmt die Rechnung und wehe, Sie sagen: Nein, kann nicht sein. Es ist ganz egal.

Meine erste große Liebe kam mir in den Sinn, vor 23 Jahren, wir saßen uns in einem Wirtshaus in Urfahr gegenüber und leuchteten. Er, groß, rothaarig und schön, mit einem Lächeln, ich sage Ihnen, unbeschreiblich, fütterte mich – ich konnte nicht essen vor lauter Gefühl. Die Leute bedachten uns mit netten Blicken. Wir waren das Zentrum der Welt und liefen, Hand in Hand, über die Brücke durch das nächtliche Linz.

Den letzten Zug hatte ich verpasst, das gab ein Donnerwetter am Morgen vom Vater, obwohl nichts geschehen war. Natürlich war alles geschehen, aber eben das eine jene nicht. Das eine jene kam erst später.

Mysterium, flüstert der dritte Bettler draußen, und räuspert sich. Bettler eins und zwei applaudieren dezent mit ihren fingerlosen Handschuhen, weil das ist wohl das schönste Wort im Mistsack. Die Insekten haben sich in einer leeren Dose versammelt, dort kriechen sie sich über Beine und Panzer und sagen: Ach, geben Sie doch Obacht, sehen Sie denn nicht, Sie stehen auf meinem fünften Fuß und knittern mir die Fühler, das macht mich ganz nervös!

Du hast dich neben mich gesetzt. An die kühle Wand gelehnt lauschen wir dem Rascheln von Chitin, dem Reiben winziger Flügel. Lauschen unserem Gleichklang. Jetzt grad müsstest du mich füttern wie der Rothaarige damals, ich könnt wieder nicht essen vor lauter Gefühl.

Später werden wir die Dose sacht mit einem Blatt Papier verschließen und in den Park hinübergehen, wo Insekten wohnen sollten.

Auf der Straße stehen mein Tisch und meine Bänke, beleidigt vom Fall, aber berauscht von der Sonne. Die Bücher liegen faul in der Gegend herum, ohne Scham geöffnet. Und weil man nie genug haben kann, und weil der Abendhimmel so weit ist über den Häuserschluchten, nehme ich eines und werfe es hoch in die Luft: Flieg, Dostojewski, singe ich, flieg!

Die Bettler biegen um die Ecke. Der erste schleppt einen Sessel, der zweite eine Bank. Auch den schwarzen Mistsack haben sie dabei, der dritte Bettler trägt ihn fort.

Schneller Durchlauf

15/06/2009

Es riecht nach Maiglöckchen und nassen Socken

Ich schnappe mir ein Buch und wandere die zweieinhalb Stockwerke hoch zum Dachgeschoss, die Wäsche wird gleich fertig sein. Hoffentlich. Manchmal spinnt der Wasserzulauf oder der Schleudergang, dann blinken vier Nullen und die Wäsche ist seifig oder tropfnass. Die Hausverwaltung fühlt sich nicht zuständig, die Hausmeisterin glaubt nicht, dass die Maschine kaputt ist – und die anderen Mieter ohne eigene Waschmaschine machen es offenbar wie ich: nachschleudern oder, im Zweifel, den schnellen Waschgang durchlaufen lassen. Ob wir alle lesen, während wir warten? In die Luft starren, Zigaretten rauchen. Die Geräusche des Hauses belauschen.

Der Aschenbecher quillt über und stinkt. Ich stelle ihn weg, drücke auf schnellen Durchlauf, setze mich auf den billigen blauen Stuhl und lese. Zwanzig Minuten später trage ich den Korb mit nasser Wäsche in meine Wohnung, während die zweite Füllung läuft. Nach weiteren vierzig Minuten mache ich mich wieder auf den Weg nach oben, das Buch unter dem Arm. Ein junger Mann kniet halb auf den letzten Stufen zum Dachgeschoss und wäscht das Geländer. Er schiebt einen roten Kübel mit Wasser und ein paar Tücher zur Seite, damit ich vorbei kann. Wir grüßen uns. Mein blauer Wäschekorb steht auf der Waschmaschine, eine ältere Frau putzt in einem der Nebenräume die Wandfliesen. Ich kenne die beiden nicht. Während ich die Wäsche nachschleudere, lese ich ein paar Seiten. Die Frau ist sehr gründlich. Sie zeigt mir die schmutzigen Innenleisten der Tür.

Eine Stunde später, ich hole die dritte Füllung. Mein Sohn macht seinen Grundwehrdienst, morgen Abend muss er wieder in die Kaserne. Mein Freund hat seine Trainingssachen mitgenommen, was weiß ich, warum wir so viel Wäsche haben heute. Im Treppenhaus riecht es nach Maiglöckchen. Das Geländer fühlt sich klebrig an. Nur noch eine letzte Füllung mit den Wollsachen – zehn grüne Militärsocken, ein dünner Pulli und eine Jacke. Im fünften Stock wischt die Frau die Aufzugtüre ab. Sie beugt sich über das Geländer und ruft „Andre, Andre!“, lauscht, keine Antwort, zuckt mit den Achseln und wischt weiter. Auf der Waschmaschine steht eine angebrochene Literflasche Coca Cola und zwei gelbe Plastikbecher.

Die zwei könnten Mutter und Sohn sein. Vielleicht Zeitarbeiter einer Firma, die Gebäude reinigt. Ich habe sie, wie gesagt, noch nie gesehen, aber der Maiglöckchenduft kommt mir bekannt vor. Sie arbeiten sich vom Dach bis zum Keller vor, Stock für Stock. Als ich den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnungstüre stecke, fällt mir auf, wie dreckig meine Türglocke ist. Seit gut neun Jahren wohne ich hier. Ich kann mich nicht erinnern, die Glocke je geputzt zu haben.

Mutter und Sohn. Ich überlege mir, wie es wäre, fremde Häuser zu putzen. Wie es wäre, gerade so viel zu verdienen, dass es reicht. Meine Couch ist zwanzig Jahre alt, zerschlissen und kaputt. Ich würde mir keine neue kaufen können. Und wenn, dann nicht die, die ich will. Sondern die, von der ich mir einreden würde, sie sei ganz hübsch. Wir würden niemals in Erwägung ziehen, einfach mit dem Taxi zu fahren, weil es, na ja, auch mal ok ist. Kino und alles andere vielleicht einmal im Monat, wenn es ein guter Monat war. Ich würde Charlie eher nicht schreiben: „He, wenn du möchtest, dass ich nach Florida komme, dann komme ich.“

Charlie ist alt. Er mailte mir gestern: „I am going downhill too fast.“ Seine Europareise im September hat er storniert. Seit ich ihn kenne, redet er vom Tod, manchmal beiläufig, oft sehr direkt. Er ist ein Mann voller Lebenskraft und Traurigkeit, eine aggressive Mischung. Wenn es soweit ist, werde ich einen Flug buchen, nach Miami oder Fort Myers, mir ein Mietauto nehmen und nach Ocala fahren, mit ihm und seiner Frau und seiner Tochter traurig sein, noch einmal fröhlich sein, mich verabschieden. Es wäre mir egal, dass ich dann noch weniger Geld auf dem Konto hätte, weil ich keine Schulden habe und ein gutes Einkommen und Zuversicht, dass es so weitergeht.

Aber. Wenn nicht? Ich hänge die Wäsche auf den Ständer, ein kompliziertes System – die Sachen meines Sohnes müssen bis morgen Abend trocken sein, die meines Freundes haben Zeit bis Montagmorgen, meine können hängen bleiben, bis ich Lust habe, sie wegzuräumen. Unter der Woche bin ich allein. Bilder wandern mir träge durch den Sinn, von mir und meinem Sohn, irgendwo in einem fremden Land Häuser putzend, in einem Eck ein Discountersackerl mit Getränken und ein paar Broten, am Abend täte mir der Rücken weh, den Maiglöckchenduft ständig in der Nase.

Mehr fällt mir nicht ein. Ich drücke mein Gesicht in den nassen Wollpulli. Er riecht nach Militärsocken.

Wie man 40 plus von den Stühlen reißt

Ach, tönte ich durch die vergangene Woche, Sonntag wird toll, AC/DC im Praterstadion, meine Freundin Andrea und ich mit heißbegehrten Karten bestückt und bereit zum Abrocken mit den Hardrock-Opas. Aber vorher (seufz), am Freitag, da muss ich noch zu Robin Gibb. Mein Freund ist Fan. Was man aus Liebe alles macht. Und so schlecht sind die Bee Gees ja auch nicht gewesen.

Jetzt schäme ich mich. Ich kann einfach nicht glauben, wie viel Gewese ich um das Gibb-Konzert gemacht habe. Das Konzert war nämlich hervorragend. Absolute Spitzenklasse.

Wir waren ziemlich früh dort und studierten das Publikum. Sehr gesetzt. Mein Freund meinte, wir wären die Jüngsten. Wir sind fast 42. Nicht zusammen. Jeder für sich genommen. Ein paar Jüngere fielen uns aber schon ins Auge. Und viele T-Shirts mit Strasssteinchen. Schöne Blusen und Freizeithosen. Herren mit lichter Haarpracht, Damen mit schickem grauen Kurzhaarschnitt. Die eine oder andere Gehhilfe. Wirklich! Ein wenig wie bei der Abendshow auf einem Kreuzfahrtschiff.

Die Plätze füllten sich, der Mann an meiner Seite, Bee-Gees-Experte mit Detailwissen, erstarrte in stiller Vorfreude. Licht aus: Der Saal begrüßte mit tosendem Applaus … einen kleinen, sehr dünnen Mann im großen Anzug. Robin Gibb wird 60 im Dezember, und man glaubt es ihm aufs Wort. Ob dieser zarte ältere Herr mit den roten Haaren und der blau getönten Brille Show machen kann? Funktioniert das Konzept Bee Gees auch ohne die Brüder? Seit dem Tod von Maurice Gibb 2003 gibt es die Bee Gees nicht mehr wirklich. Gemeinschaftsprojekte von Barry und Robin Gibb erscheinen unter dem Namen „Brothers Gibb“. Erfolgreich sind sie aber auch alleine: Barry Gibb nahm u. a. mit Barbra Streisand ein recht bekanntes Album auf.

Aber zurück in die Stadthalle, wo die Stimmung nach den zwei ersten Songs zwar gut, aber noch ausbaufähig war. Der Star war ein wenig wortkarg, er ließ lieber seine Daumen sprechen. Nach jedem Song gab es beidhändig und ausgiebig Thumbs Up in Richtung Publikum. Viel Zeit zum Reden war ohnehin nicht vorhanden, immerhin wollte die Generation 40 plus von den Stühlen gerissen werden. Was so einfach auch wieder nicht ist. Außer man heißt Robin Gibb und bringt die Bude zum Kochen.

Bei „Massachuchetts“ sprangen die ersten auf. Bei „You win again“ stand schon das halbe Parterre. Einschub: Ich hasse „You win again“. In meiner Jugend der absolute Garant für eine leere Tanzfläche. Man kann, finde ich, dazu nicht tanzen, sondern nur rhythmisch stampfen. Ganz versöhnt hat mich auch der letzte Freitag nicht mit dem Song, aber der nächste in Folge hat alles wieder gut gemacht: Ich liebe „Islands in the Stream“! Dolly Parton, Kenny Rogers! Unglaubliche Kombination von Stimme, Oberweite und Wespentaille. Dazu der einfache Mitsingtext. Großartig. Der Applaus kippte in Jubel und Begeisterung. Robin Gibb dankte es mit einem richtigen Satz: „When I come back, I bring Barry with me.“

Die Bee Gees haben, was nicht jeder weiß, viele, viele Songs für andere Interpreten geschrieben. Darunter so Weltnummern wie „Woman in Love“ für Barbra Streisand, oder „Heartbreaker“ für Dionne Warwick. Und das Schöne ist: Die Schnulzen standen auf der Liste. Und natürlich die Disco-Hadern. Bei „Nightfever“ begann der Saal zu kochen, alles tanzte vor der Bühne. Oder in den Rängen. Die Sitzordnung war quasi aufgehoben. Nein, man braucht sich nicht zu schämen für das Wiener Publikum. Nach „Juliette“ kam „You should be dancing“ in einer unglaublich fetzigen Variante mit tollem Gitarrenriff, und ich fühlte mich (ehrlich, ich schrieb mir genau diesen Satz in mein Notizheft) „in den Vierzigern gut angekommen“. Warum weiß ich nicht, aber die Zeit war eh schon mehr als reif.

Die berüchtigte Kopfstimme, im Original von Bruder Barry gesungen, überließ Robin einem Backgroundsänger, was gut war, weil ohne die hohen Töne hätte die Zugabe – „Tragedy“ und „Staying Alive“ – nicht funktioniert. Mittlerweile tanzte sogar ich. Weil wir so nett waren, gab es noch einmal „Juliette“, bevor sich die Band endgültig in den angebrochenen Abend verabschiedete.

Mein Resümee: Ein, wie gesagt, großartiges Konzert mit einer selten tollen Stimmung, einer fantastischen Live-Band, einem sehr lockeren und netten Robin Gibb und einem ausgeflippten Publikum. Die einzige Enttäuschung war, dass es beim Fanshop kein Gibb-T-Shirt in Größe S gab. Ich hätte das beim AC/DC-Konzert gern getragen. So als Statement. Egal. Wir fuhren heim und waren glücklich. Der einzig gültige Beweis für die gute Qualität eines musikalischen Abends. Daumen hoch, Mr. Gibb!

PS: Sonntagnacht, zurück vom AC/DC-Konzert. Glücklich und taub. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.