Draußen das wütende Heer
15/12/2009
Unterm Dach und im Keller
Nackt könnte man sein. Das Haus schläft noch tiefer als sonst, ihm reicht ein Atemzug alle paar Tage, ein Blauwal am Meeresgrund und du in seinem Herzen. Die Wilde Jagd zieht übers Land, draußen das Wütende Heer. Drinnen, da Raunacht ist, das rituelle Räuchern. Sanft. Besänftigend.
Du stehst da, im alten Bügeleisen glüht noch Kohle, Weihrauchkörner glimmen. Ein Jahr um, gibt nichts Neues zu schreiben. Gilt, das Alte immer wieder zu schreiben, weil es wahr ist. Hier im Keller könntest du nackt sein und allein, wirklich allein. Die vielhundertjährigen Mauern wölben sich über dir, und in dir wölbt sich auch etwas. Spinnweben bewegen sich leicht im schweren Rauch.
Später als sonst bist du heuer gekommen und hast dich nicht über die Angst gewundert, die mitkommen will auf dem langsamen Gang durch das leere Haus. Ist schon Nacht, du bereitest alles vor. Die Glut, den Weihrauch. Dich. Früher, als du noch ein Kind warst. Da waren Seelen, die flüsterten. Etwas schlich vor dir über die Holztreppen und schlüpfte in Nischen, wesenlos an kalte Wände gedrückt. Heute hält sich Kinderangst an deiner Jacke fest. Während du alle Zimmer durchwanderst. Die Stille ist dicht und kühl. Sie hebt sich kurz, wie ein Tuch, und sinkt hinter dir wieder zurück.
Du bleibst im alten Wirtshaussaal vor dem Bild der Großmutter stehen. Ihre Augen sind die deinen. Du greifst ein wenig zu ihr hinüber. Hinüber oder zurück. Das Kinderzimmer mit dem Fenster zum Dachboden, der hohe Dachboden selbst. Du bist dir sicher, nicht allein zu sein. Trotzdem, bleib da. Versuche, ruhig zu werden, denkst du. Egal, was dich aus den Schatten im Gebälk beobachtet.
Und dann gelingt das auch. Immer an dieser Stelle. Das Bügeleisen raucht vor dir auf dem steinernen Boden. Alles, was je in diesem Haus gelebt hat, ist leises Gespinst, flüchtig vorhanden. Die Geschichten der Großeltern, die Franzosen, die hier interniert waren mit ihren grauen Soldatenröcken. Der Nazi, der aus einem der Fenster die Großmutter mit einer Pistole bedrohte, als sie über den Hof ging. Der Mann, der sich zur Weihnachtszeit umbringen wollte, aus Kummer, von den Seinen getrennt zu sein. Ohne Hoffnung. Die vielen Familien, die sich die Zimmer teilten. Die Onkel und Tanten und der Hund Jumbo, der beste Rattenfänger der Stadt. Es gab noch Schweine im Saustall und Kraut in der Krautkammer und Verstecke für geheime Vorräte, die mein Vater und seine Brüder besorgten.
Das war vor deiner Zeit und ist doch deine Zeit, durch die Geschichten am Stammtisch, die Erzählungen der alten Männer beim Schnapsen, und damals gab es ohnehin nur den Krieg für die einen und das Durchkommen für die anderen. Aber heute steht das Geisterreich offen in unserem leeren Wirtshaus. Der Großvater hatte es in den Dreißigerjahren gekauft, weil seine Frau das so wollte. Zugereiste waren sie, er verdiente früher in Salzburg als Küchenchef mehr als ein Hofrat, hieß es. Hier, in der Kleinstadt, blieben sie und ihre Kinder (auch die später geborenen) immer irgendwie Zugereiste, und das war auch gut so.
Das machte dir das Weggehen leichter. Waren nur mehr wenige der dünnen Wurzeln übrig für dich. Aber die sind zäh, im harten Erdboden des Kellers vergraben. Wo du jetzt stehst, wie jedes Jahr, älter, und immer noch gruselt es dich ein wenig, wenn sich Modergeruch mit Weihrauch vermischt. Die Granitsteine glitzern im dünnen Licht, und wenn du mit nassem Finger über sie streichen würdest, würden sie nach Salz schmecken. Ganz, ganz still ist es hier unten, im Innersten der Angst, die im Grunde keine ist. Oder?
Wie voll muss die Vergangenheit sein, dass du immer wieder in sie zurückkehrst. Wie dichtgewebt. Hält dich das auf oder hält dich das aufrecht? Deine stolze Großmutter, wie gern wärst du wie sie. In deinem Sohn erkennst du den Eigenwillen des Großvaters, ein wenig von dessen Unnahbarkeit. Genug, um zu wissen: Da setzt sich etwas fort.
Ist das gut? Das Haus schläft. Nackt könntest du hier stehen, nichts würde passieren während deiner Reise zurück. Die Wilde Jagd, das Wütende Heer zieht übers Land und tobt sich aus. Ja, das ist gut so. Diese Fülle ist dein Reichtum, diese Schwere dein Anker. Prall soll es sein, das Leben.
Es genügt jetzt. Ein Mal im Jahr darf man so fühlen, darf sich etwas wiederholen. Du gehst noch durch das dunkle Vorhaus in den Hof bis zum Tor und stellst das Bügeleisen im Freien auf den Boden, an einer sicheren Stelle. Das Erlöschen der Glut wartest Du ohnehin nie ab.