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Natürlich wird dieser Text meinen Eltern vorgelegt werden. Mit einem dieser speziellen Begleitschreiben, bei dessen Formulierung sich nicht feststellen lässt, was überwiegt: Empörung oder Besorgnis? Soll das Kind bestraft werden oder behandelt? Da Strafe Annäherung bedeuten würde, werden sie für die Behandlung plädieren. Wie auch immer.

Nackt, bis auf das Tuch über meinen Schultern und den Spuren auf Bauch und Schoß, sitze ich an dieser Arbeit für Biologie und das, was man in unserer Schule Ethikunterricht nennt. Es ist halb vier Uhr früh, ein Vogel singt schon im Baum vor dem Fenster. Ich muss es schließen, damit er nicht hereinfliegt, den Schneckenkönig stiehlt und sein Fleisch aus dem Gehäuse zieht. Dieses Gehäuse ist linksgängig, normale Schneckenhäuser winden sich nach rechts. Lange Zeit habe ich einen der sehr seltenen Schneckenkönige – so nennt man sie tatsächlich – gesucht. (Das erklärt auch meine zahlreichen Bitten um Fristverlängerung und die Tränen, wenn man sie mir nicht genehmigen wollte.)

In dem Moment, in dem ich diese Zeilen tippe, streckt der Schneckenkönig seine Fühler aus. Er ist außergewöhnlich lang, fast elf Zentimeter und laut Vorbesitzer sechs Jahre alt. Als ob man ihn besitzen könnte. In Wahrheit wird man von ihm besessen, im Wortsinn. Ich habe mich von ihm besitzen lassen, und davon handelt dieser Essay.

Auszug aus dem Text „Die Frau des Schneckenkönigs“ (c) Peschka.