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Watschenmann (Textauszug)

25/02/2013

Kein Rabe für Heinrich. Die ersten zwei Regeln. Vielleicht auch die dritte.

An einen Raben will er denken, an einen, der sich gegen den Wind stemmt. Lydia meint, das steht ihm nicht zu, das taugt nix. „Warum?“ „Der Rabe ist zu hoch für dich, zu schön.“ Heinrich versteht nicht gleich. „Wirst schon verstehen“, sagt sie, sagt oft solche Sachen und erklärt sie dann nicht. „An was denkst du, Lydia, wenn du geschlagen wirst?“ Statt einer Antwort spuckt sie vor seine Beine. „Wirst wohl aufhören mit der Fragerei. Wochenlang redest nix, und dann.“

Heinrich weiß schon, dass es schwer ist am Anfang. Du wartest auf den Schlag, auf den Tritt gegen Arm oder Bein. Und weil du wartest, weil alles bereit ist, alle Nerven, weil die Haut sich hindehnt und die Synapsen im Kopf flimmern und zucken, weil das so ist, blitzt es. Wenn sich der Stiefel ins Schienbein bohrt. Oder der Absatz von Damenschuhen in die Rippen. Auch das gibt’s. Dann blitzt es vor den Augen, du gehst in die Knie, windest dich auf dem Boden. Wie ein Wurm, zwischen Hundehaufen und Mist. Windest dich und stöhnst. Oder wimmerst. Noch schlimmer. Dann treten sie stärker, damit du aufhörst. Das hat keine Logik. Und weil es keine hat, hat es eine.

„Da capo!“ Lydia kreischt vor Lachen, hässlich ist sie, als sie es Dragan erzählt. Da liegt einer auf dem Boden und bittet höflich, noch einmal hinzutreten. Heinrich hasst sie in dem Moment. Na, weil sie Recht hat. Daher auch das Humpeln. Zuviel Zugabe bekommen. Klappe nicht halten können. So schaut’s aus.

Also kein Rabe. Über dem Sturm, nein, über dem Platz. Heinrich hat da so einen Vogel gesehen, kurz vor dem Sturm. Er flog über den Platz, die Bäume griffen in der Luft herum. Die war voller Staub und Sand, von der Baustelle beim Schottenring, wo sie das Hochhaus vom Boltenstern hinstellen. Am Sonntag gehen die Familien Bagger und Baugrube schauen. Die Büro-Väter erklären Bewehrungen und Verstrebungen, und die Hausfrauen-Mütter nicken und sagen, man solle aufpassen, was der Vati erzählt. Und sich nicht schmutzig machen am Bauzaun. Danach gibt es ein Eis am Schwedenplatz. Schöne neue Welt.

Der Vogel flog gegen den Wind. Er stemmte sich quer über die Leute, die ihre Kinder und Taschen packten und gingen, aber Heinrich blieb sitzen und sah dem Raben zu. Weil der so aussah, als würde er schwitzen. Das waren nur seine Federn, die glänzten blauschwarz.

„Warum soll der Junge nicht an einen Raben denken, Lydia? Ein Rabe ist so gut wie jedes andere Tier.“ Dragan zeichnet mit seinem Stock Linien in Lydias Spucke. Dann steht er auf, putzt sich den Dreck von der Jacke, gähnt. „Ich bin hungrig“, sagt er. „Woran denkst du, Dragan, wenn man dich schlägt?“ Dragan sieht ihn an, die hellen Haare, das schmale Kinn. „Hm. An meine Eier, wenn es den Kopf erwischt. An den linken Daumen, wenn es die rechte Hand treffen wird. Wenn sie mir in den Arsch treten, denke ich an dich, psiću.“ Psiću. Kleiner Hund. Er lacht. Und geht. Abgang, Abmarsch. Weg. „Pazzo“, murmelt Lydia.

Lydia und Dragan. Das ist so eine Sache. Seit Heinrich mit ihnen durch die Stadt zieht, denkt er über sie nach. Was er halt nachdenken nennt. In seinem Nachdenken sind die beiden ein Paar. Sind Mutter und Sohn. Sind gar nichts. Lydia war zuerst da. Heinrich ist in ihr Versteck gestolpert, wäre ihr fast in die Arme gefallen. Versteck darf er nicht sagen. Dragan meint, es ist anders rum. „Draußen versteckt sich die Welt vor uns.“ Wie er uns gesagt hat, hat Heinrich gewusst, er meint ihn auch. Und ist geblieben. Dragan nennt den Verschlag palata. Lydia sagt, es wäre nicht mehr als eine Bruchbude, eine versaute Dreckshöhle, ein paar Bretter hinter einer leeren Werkstatt. Wahrscheinlich war das früher ein Schuppen. Wahrscheinlich ist der Schuster tot. Zerschossen. Oder bei den Russen. Dem Jungen ist das gleich. Es ist ruhig und trocken. Mehr braucht man nicht.

Die Werkstatt ist versperrt. Heinrich presst die Nase so fest an das Glas, dass es knackt. Brich, denkt er, brich einfach. Dann komme ich rein in deine Zeit. Lydia erwischt ihn vor den Fenstern. „Verschwinde“, schimpft sie, „das gehört dir nicht.“ Dass das niemanden mehr gehört, ist ihr egal. Dann gehört es sich selbst. Lydia, könnte er sagen, ich tu‘ doch nichts. Ich nehm‘ keinem etwas weg. Aber er schweigt. Er wartet, bis sie mit dem Stock droht. Bis sie damit auf seine Beine drischt. Bis sie ihn fortschwemmt mit ihren Flüchen. Dragan hat viele Namen für Lydia. Dušo moja. Meine Seele. Ljubavi. Liebste. Srećo moja. Mein Glück. Vielleicht sind sie ja doch ein Paar.

(Siegertext beim LiteraturPreis Wartholz 2013 – Kapitel 1 und 2 des Watschenmannes auf Schloss Wartholz/Siegertexte)

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