Über Wunder
23/12/2019
Sprachgesang oder Sprechrhythmik in drei Teilen. Entstanden für „… dass sich wunder alle Welt …“, Texte und Musik zum Advent, gemeinsam mit Rudolf Jungwirth (Orgel-Improvisationen) am 14. Dezember 2019 in der evangelischen Kirche Eferding.
Erstens: Wundern an sich.
Dass sich wunder alle Welt. Dass Grenzen sind zwischen dem, was sich erklären lässt und dem, was nicht. Dass diese Grenzen durchlässig sind im alten Sinn, und sich verfestigen hin zu Stein im neuen.
Dass etwas, das Wunder sein durfte über die Dauer, keines mehr ist. Sondern, erwiesen für die große Welt, eine Geschichte, eine Mär, zum Streicheln der Kinderseele auch im Erwachsenen. Um Augen rund zu machen, ein Staunen in sie zu zwingen mit arroganter Hand.
Ich war das Kind, dem Gemurmel der Großmutter nachsteigend, das Haus voll Weihrauch und über den Dächern die Wilde Jagd tatsächlich.
Ich bin diese Frau, dem Gemurmel der Großmutter nachlauschend seit sie. In der Luft ist, in dieser.
In diesem Schweigen.
Ich war das Kind.
Das sich wunderte. Das Geheimnis, die Gerüche, die versperrte Tür. Das silberne Glöckchen, der Engel, der ein Gott sein sollte, dem man einen Brief schreiben konnte, aufs Fensterbrett gelegt und mitgenommen, während man schlief. Was wünschst Du Dir?
Ein Wunder.
Ein Nadeln, und man durfte sich nehmen vom Baum, alles feierlich in Pullovern, und im Holzofen knackten die Scheiter.
Kindergeschichte: Manchmal hatte der Vater mit dem Kohlenkübel eine Maus ins Haus gebracht, sie ließ sich tragen, wie in einem Korb und darüber der Ballon gespannt, so stellte ich’s mir vor. Dass die Maus, der Nagezahn, auf Reisen ging, auf einen anderen Kontinent, der unsere Küche war. Und alles nur, weil das kleine graue Fell sich wärmen wollte und sehen, wie es zuging, in diesen Menschenstuben. Dort, wo wir es so gut hatten.
Dachte ich. Mit meinem jungen, leichten Kopf. Dem ungeformten. Zuerst. Nicht später. Später war der Durchlass
schon zu.
Dafür andere Kanäle offen: Weil die Mauer dem Finger nicht weichen wollte, obwohl doch gesagt war, ein jedes wäre Materie und Atom und zwischen den Atomen leerer Raum.
Schwingt sich alles, müsste doch, dachte ich. Der Finger, wenn langsam genug, in die Mauer sich hinein schwingen lassen.
Stand, das Kind, das Mädchen, die Hand an der weißgekalkten Wand. Spürte im alten Haus dahinter den Stein. Dachte daran, dass jemand diesen Stein gesetzt hatte vor weiß nicht wie lang.
Dass dieser jemand anders lebte. Anders aß, sich anders kleidete, anders glaubte. Aber vielleicht (ein Flüstern), vielleicht rasselte es auch bei ihm übers Haus in der Raunacht. Zogen auch er und die seinen zur Mette in die Kirche und gingen dabei durch den alten Park vor Mitternacht und flockte es und knirschte es unter den Stiefeln und waren die Tücher vor dem Mund feucht vom Atem und die Ohren steif vor Kälte aber gefreut hat man sich doch.
Und ehrfürchtig war’s und was Ehrfurcht für ein Wort sein soll, vor Ehre sich zu fürchten, wie geht das?
Die Hand an der Wand, dahinter die Steine kein Grenzstein. Jemand hatte diesen Stein gesetzt und war schon hier vor mir.
Zweitens: Das Kleinste.
Dass sich wunder. Dass etwas im Kleinsten eine Welt sein soll, im Hautgebilde sich Winzigstes bewegt, schlängelt, mit Amöbenbeinchen schwimmt und frisst, verdaut, sich sucht und teilt, als wär’s das Bewusstsein in seiner Essenz. Versteht sich das?
Dass über uns und zwischen uns und in uns drinnen auch, also durch uns durch eine Materie ziehen soll, die sich entzieht. Dem Hinschauen. Dem Fühlen.
(Geh hinaus, jetzt: Das Gotteshaus in Nacht gehüllt und hüllt dich gleichsam ein.)
Zwischen der rauchigen nächtlichen Winterluft und uns, hier, im Inneren, im schönen Schein. Wieder nur diese Mauer. Wieder nur nichts als, nimmt man’s genau, Atome in Schwingung und mit Leere in sich.
Findet sich in der Leere zwischen den Kernen dieser Durchlass, den wir verloren haben? Der Glaube an Unmöglichkeiten. An das, was sich dem Sehen entzieht. Dem Fühlen nicht entzogen war so lang.
(Sag, wo führt das hin?)
Zu viel vom Falschen gegessen. Zu bequem geworden. Die Angst zu groß vor keiner Antwort.
Dabei: dass sich wunder.
Dass etwas auf die Welt kommt und weiß, was es tun muss im nächsten Augenblick. Aufzustehen, sich aufzustemmen, der Schwäche zu trotzen, dem erlittenen Schmerz, der plötzlichen Kälte, dem harten Boden, dem Wind, dem grellen Licht.
Noch blutverschmiert. Aufzustehen, die Zitzen zu suchen, den Schutz der Mutter, oder der Herde.
Nackt und blind im Nest zu bleiben, still zu sein, wenn Gefahr droht, still zu sein, weil keine Gefahr droht, da es still ist. Zu schreien, den Schnabel aufzusperren, mit seiner Signalfarbe zu signalisieren: Fütter mich, kümmer dich, halt mich warm.
Woher hat es dieses Wissen?
Wohin es fliegen muss, flügge geworden. Wohin man schwimmt als Lachs. Zum Laichen, zum Sterben danach.
Worin ist das eingeschrieben, und wer hat’s getan, mit welcher Hand?
(Tyger tyger burning bright.)
Nicht zu glauben ist die leichtere Übung.
Ich, wie ich hier stehe, sitze, schreibe, lese, vortrage, was in sich zusammenreimt beim Denken an die Zeit, in der wir sind. Ich glaube nicht an die Jungfräulichkeit der Geburt. Ich glaube nicht an die Singularität der Religionen. Ich glaube nicht an die Endgültikeit von Grenzen. Ich glaube nicht an Grenzen. Ich glaube nicht an Nationen. Ich glaube nicht an das absolut Gute.
Ich glaube nicht an Gott.
(Suche ihn ständig.)
Und doch fällt es mir schwer, an das absolut Böse zu glauben, an die absolute Gleichgültigkeit.
Ich glaube, das fällt mir leicht, an das Heim, das man einander ist,
an die Ewigkeit der Energie
aus der, wer weiß, etwas sein könnte, das sich Seele nennt.
Ich glaube, das fällt mir leicht, an kleines Glück, an Momente, die sich fassen lassen, so perfekt in ihrer Perfektion, dass sie das Leid der Welt, das tost und lärmt, dass sie es übertönen für einen Zeitspan.
Und dieser Zeitspan ist aus Gold, mit sich nicht handeln lässt, nicht spekulieren.
Ich glaube an die Unendlichkeit, und somit an einen ewigen Bestand, in dem, ich will es hoffen, wir verlöschen nur als Flammen und anders weiter sind. Und uns entziehen in jene Leere, die keine ist, weil angefüllt, bloß, womit?
Drittens: Heimfahrt. Wunderwelt.
Oben ein Mond im weiten, lichtverstreuten Hof. Hängt über dem Land, mischt sich etwas von ihm in die Nachtfarben. Schlängeln sich die Gleise der Lokalbahn aus der Stadt hinaus, glänzen dort, wo sie beschienen werden zum Beispiel von: hellen Fenstern in den Fassadenreihen schwarzer Häuser. Warmes Gelb ist das, man könnte sinnieren: warm-rötliches Gelb sogar. Könnte sich überlegen, was dahinter ist, hinter dem Glas, der Isolierung, dem Dämmmaterial, dem Schutz und schon wieder: hinter der Grenze.
Glänzen dort deutlich, die Gleise, wo bei Stationen Straßenlaternen leuchten, wer aus dem Zug steigt, taucht kurz ein und auf und weg ist er oder sie oder die zwei mit dem Kinderwagen, ein stolperndes Kleinklein an der Hand. Stolperte vielleicht wegen der Winterschuhe, den dicken Schneehosen (kein Schnee), wegen dem Hinausgezogenwerden aus der Zuginnenwärme in das Draußenkalt.
Gehen womöglich, ich weiß es nicht, ich bleib ja zurück, weil ich weiterfahr, gehen durch den Straßenlaternen-Lichtkreis, den flachen Anstieg zur Straße, queren diese, haben, die zwei mit Kinderwagen und Kleinklein, hundertdreiundzwanzig Meter nur in eins der Häuser mit vielen Fenstern, um dort zwei, drei weitere anzuzünden. (Wie Türchen im Kalender, lass uns raten, welches geht auf.)
Hundertdreiundzwanzig Meter sind zuviel für ein stolperndes Kind. Weinen wird es, will auf den Arm genommen werden, will aber niemand das Kind auf den Arm nehmen, weil seine Winterschuhe (so winzige Sohlen!) schmutzig sind und der gute Mantel, ach.
Wird sich also heimquengeln müssen, heimraunzen, erst leise, dann laut plärren und protestieren gegen das Ungerecht der Welt, dieser Welt.
Wie weit sind hundertdreiundzwanzig Meter, wenn am Ende.
Das Kind weint übrigens zu Recht. Es ist sein Recht, weil es müde ist, der Tag es angefüllt hat mit einem Übermaß an Bildern (Christkindlmarktglitzern und Geräusch und zwischen den Straßen diese Sterne und die Verheißung und wer soll das begreifen, wer soll da mithalten können?)
Noch einmal: Wie weit sind hundertdreiundzwanzig Meter, wenn am Ende dieser Reise eine Wohnung wartet, wohltemperiert, ein Abendessen, ein Adventkranz und an der Tür das grün-rote Gesteck, ein eigenes Zimmer, zu teilen bald mit dem Kinderwagen-Schläfer, aber noch ist es – das Kleinklein – Herr über sein Reich, regiert im Flausch-Pyjama, Pu, der Bär, Balu, der andere Bär friedlich im Eck, weil ausgespielt für heut.
Alle Spielsachen spielen, sieht niemand hin. Dass zu wissen, braucht’s kein Hollywood, das ist Wissen eingeschrieben ins Kindliche. Man spielt es an, das Puppending, zeigt ihm, wie es geht, beseelt es, was folglich die Aufgabe des Eigentümers ist (des stolpernden Kleinkleins): das Leblose zu animieren.
Ihm eine Seele zu geben, einen Namen also, ihn ins Leben zu bringen. Was nur gelingt, weil dieser Durchlass offen ist. Hinüber in eins der tausend tausend abertausend Parallel-Universen, hin und her, kann man, darf man wechseln, ist man ein
Kind.
Allen anderen wird schräg begegnet. Schrägt sich der Blick, die Wahrnehmung, die Gedanken schrägen sich auch. Verziehen sich die Münder, wird abgesprochen dir das Recht, welches Recht, jedes Recht.
Schwimmen wie Enten im Teich, der zufriert, immer enger die Kreise, immer näher das Eis, bis es trägt oder festhält.
Ich wünsche mir, ich wünsche mir ein Wunder. Das flanellige Kleinklein. Ich wünsche allen nicht weiter als eins, zwei, drei. Hundertdreiundzwanzig Meter zur wohltemperierten Wohnung. Quengeldistanz. Auszuhalten. Ungefährlich.
Wann hat sich die weltliche Gnade verlernt.
(Die sieben Gefilde des Himmels. Der unterste Himmel manifestes Licht: Fels. Anderes ertrügen wir nicht. Anderes als Stein wäre für unsere Nichtseelen, Dochseelen, Weißnichtseelen zu schwer.)
Im Stein, in den Kernen, ein Schwingen, dazwischen: Nichts.
Und Möglichkeiten und Fragloses und Nichtbeantwortetes und
keine Angst.