Ich mutiere
15/06/2006
Die Zeichen sind so subtil wie unübersehbar
Die Zeichen sind subtil. Nein, ganz falsch. Die Zeichen sind Zaunpfähle, mit denen mir das Schicksal winkt. Sie sagen: Auch du wirst eine nervige Mutter sein. Eine, gegen die sich Jungmänner und -weiber nur mit wohlwollender Geringschätzung und lächerlichen Geschenken wehren können.
Du nörgelst ständig, meint Johnny, und ich entgegne: Ach was, ich weise dich einfach auf etwas hin. Johnny: Stimmt, und das nervt.
Er mache das schon irgendwie, aber das „Irgendwie“ ist mir zu ungenau. Der ganze Knabe ist ja eine einzige Ungenauigkeit auf zwei Beinen. Wie dieses Wesen funktioniert, aus welchen Komponenten es sich zusammensetzt und wo sich der Schutzschalter für Notfälle verbirgt, wird mir mehr und mehr zum Rätsel.
Ist das die „zweite Entbindung“? Erst trennt sich ein Körper vom anderen, dann die Seele? Wie auch immer, da hat sich was verschoben, irgendeine Achse im Zeit-Raum-Kontinuum – und jetzt ist mir seine Welt nicht mehr so leicht zugänglich wie bisher. Was macht die irritierte Mutter? Sie verkrampft sich, um den Anschluss nicht zu verlieren. Heraus kommen sinnlose Konversationen, die eher an Polizeiverhöre erinnern und die Suche nach Spuren von Restlogik in Johnnys Verhalten. Dabei ist die Logik eines Jungmutanten eine völlig andere.
Frage ich ihn etwas, sieht er mich oft völlig entgeistert an. So, als müsste er die Antwort aus den Tiefen des Universums hervortauchen und durch ein transplanetarisches Übersetzungsmodul jagen, bevor er sie in den Mund nehmen kann. Und dazu, so deute ich die Geste, hat er wenig Lust.
Ich habe allerdings wenig Lust darauf, durch Johnnys freie Interpretation von Ordnung ständig an meine diesbezüglichen Entwicklungsjahre erinnert zu werden. Die schmerzlich genug waren. Denn meine Eltern hatten zwar meine Geschwister mit Ordnungssinn und Sparsamkeit ausgestattet. Für mich, der Jüngsten, war jedoch nichts übrig geblieben.
So verlief die Demarkationslinie im Zimmer meiner Schwester und mir quer durch den Raum. Ihre Hälfte zusammengeräumt, meine chaotisch. Das setzte sich überall fort, sogar im Zweimädlszelt auf unserer Campingreise: Beim Aufwachen war neben mir bereits besenrein leergefegt, und meine Schwester schmierte draußen Frühstücksbrote.
Alle Strategien zur ungefähren Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung habe ich mir mühsam selbst erarbeitet, statt zum Beispiel auf den Erfahrungsschatz meiner Mutter zurückzugreifen. Ich sah sie wohl sprechen, sah interessiert, wie sich ihr Mund bewegte, allein: Ich hörte sie nicht. Ihre Ratschläge waberten wie künstlich verzerrte Tonsignale am Rand meiner Wahrnehmung. Eine für Teenager geniale Filterfunktion, aber wie es sich am anderen Ende der Schallwelle anfühlt, weiß ich erst jetzt. Grauslich.
Wie gesagt, ich mutiere. Allerdings, allerdings. Wenn der Prozess abgeschlossen ist, trage ich Strickjäckchen, eine schicke Kurzhaarfrisur mit roten Strähnchen, bestelle im Shoppingkanal Hosen mit praktischem Gummibund und freu mich über Besuche im Wiener Tiergarten.
Wenn schon, dann richtig. Guten Abend.