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Mein Tod, mein Glück

30/03/2008

Szenen einer arrangierten Beziehung

Ich war zwanzig, als es hieß, ich hätte nur mehr zwei bis sechs Jahre. Die Leber würde versagen, früher oder später, was den Tod bedeute. Ach, wie war das süß. Der Arzt, ein Primar, hatte meinen Eltern die Nachricht verkündet. Ich war auch dabei. Er sprach von „der Karin“, von „ihrer Tochter“, als wäre ich schon weg. Meine Eltern waren gekommen, um mich abzuholen. Nicht als Todkranke, sondern als wieder halbwegs Gesunde.

Die Gallenblase musste raus. In einem Fläschchen schwammen drei Steinchen. Ich drehte es – im weißen Spitalsbett liegend – zwischen den Fingern hin und her. Diese Winzigkeiten, dachte ich, können nicht der Grund für den Schmerz gewesen sein.

Waren sie auch nicht. Der Grund lag tiefer. Der Gallengang eine Perlenkette, die Gallenwege ein verkrüppeltes Mostapfelbäumchen. Werte wie ein schwerer Alkoholiker. Ohne Alkohol. Ohne Rausch. Ich fühlte mich um den Rausch betrogen. Der Arzt, ein Primar, stellte den Tod in sein Sprechzimmer. Damit waren wir fünf: Er in Kittel und Fremdheit. Ich mit meiner Reisetasche und der frischen Narbe am Rippenbogen. Meine Eltern, blass. Und der Tod.

Aber ich glaube, der stand gelangweilt am Fenster und sah den Blättern beim Fallen zu. Er wusste, es war zu früh. Wollte noch nicht bleiben. Ließ ihn aber nicht mehr gehen, den Süßen. Nahm ihn mit. Der Arzt sagte: Massive Schäden. Zwei bis sechs Jahre. Neue Leber.

Eine neue Leber einbauen. Oder draufgehen an dem Versagen der alten. Oder draufgehen beim Einbau der neuen. Das nächste Bild, an das ich mich erinnere: Ich sitze in der Gasthausküche in der Nische neben dem Ofen. Der beste Platz. Es ist warm. Ich überlege, was ich mit dieser Botschaft anfange. Um dann das zu machen, was man mit Botschaften macht. Man verkündet sie.

Vier enge Freunde hatte ich damals. Die nahm ich mir einzeln vor. Perfekte Inszenierung. Wir gingen im Herbstwald spazieren. An der Donau, in den verfärbten Auen. Bedeutungsschwer. Ich weidete mich an ihrer Verstörtheit. Und suhlte mich am eigenen Leid, an der vorgeschossenen Trauer um mein junges, verlorenes Leben.

Ein paar Jahre später verließ mich einer der vier knapp vor der Hochzeit. Ich war noch immer nicht gestorben. In Wahrheit hatte ich das auch nicht erwartet. Es war ein krankes Spiel. Und eine ernstzunehmende Option. Eine fremde Leber wollte ich nicht haben. Was ich wollte, war die Möglichkeit des Todes. „Manifeste Depression“, nannte es später ein Heilkundiger. Trauer verhärtet im Oberbauch, damit war der Kopf frei, das Ganze hatte einen Namen und wenn man sich mit dem Sterben beschäftigt, ist das Leben grad ums Eck.

Mittlerweile haben wir uns arrangiert, das Spiel und ich. Anfang dreißig noch ein letzter langer Fieberschub, seither nur ab und an ein Zwicken, ein paar Tabletten, und aus. Als mein Sohn klein war, zeichnete er mit seinen Kinderfingerchen die blasse Narbe nach: Was ist das? Da, log ich, bist du rausgekommen. Und vorher? Vorher, sagte ich, bist du drinnen gesessen und hast meine Leber gestreichelt. Und dann? Und dann ist es mir besser gegangen. Und das war nicht gelogen.

Ein eckiges Thema, das Sterben. Vor zwei Wochen haben wir unseren alten Onkel begraben. Knarrende Kirchenbänke, Weihrauch, die Lesung, Fürbitten, Taschentücher und Gehuste. Es gab Chorgesang und Orgel. Später die Zehrung im Gasthaus, mit Totensemmel und Rindfleisch und allem, was dazugehört.

Aber vorher in der Kirche. Ich sitze zwischen meinem großen Sohn und den Eltern. Wenn ich gestorben bin, dann. Ich weiß ganz genau, was ich sagen möchte. Will es festhalten, für die Nachwelt, quasi an meinem Sarge zu verkünden. Das Drehbuch zum eigenen Begräbnis. Warum auch nicht?

Der Tod ist immer noch bei mir, wir sind das alte Paar einer arrangierten Ehe. Mein Glück, dass er sich so früh zeigen musste. Jetzt steht er am Fenster und betrachtet gelangweilt die Baustelle gegenüber. Spute dich (sagt er), du hast einen Termin um halb zehn. Ja, aber nicht mit dir (sag ich) und er tut, als würde er gähnen. Der Süße. Wir entkommen einander nicht.

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