Sie auch?
30/09/2006
Anfallsartige Schüchternheit
Im Kleinen, da lässt sich ja viel erklären, ziemlich viel sogar, aber im Großen? Verstehen Sie alles? Gehören Sie zu den Leuten, die zu allem und jedem eine Meinung haben, eine dieser großen Meinungen, die man gerne herzeigt und zur Diskussion stellt? Die sich schon in der Haltung ausdrückt, mit der man ein Zimmer betritt, oder ein T-Shirt trägt, oder die Tasche, oder sonst was?
Sind Sie von jenem Schlag Mensch, der auf alles eine Antwort weiß und wenn nicht, sich das nie anmerken ließe? Haben Sie Kinder? Sitzen Sie in der Straßenbahn, in der U-Bahn und wünschen sich manchmal in eine schneebedeckte, antarktische Einsamkeit, weil alles zuviel ist, zu nah, zu unmittelbar, zu fordernd und vor allem: zu verwirrend?
Hält es Sie an einem anderen Platz als dem des von außen nach innen Schauenden, sei es vom Rand einer Gruppe in die Mitte oder neben sich stehend sich selbst beobachtend?
Wechseln Sie die Straßenseite, wenn Sie sonst an einer Gruppe fremder Menschen vorbeigehen müssten, die, sagen wir mal, in einem Schanigarten sitzen, in der Spätsommersonne, Sie aber einen plötzlichen Anfall von postpubertärer Schüchternheit haben? Kann es vorkommen, dass Sie auf der Schwelle eines Geschäftes umdrehen, weil drinnen sitzt ein ganz forsch blickender Mensch und will Sie bedienen, aber eigentlich will er es doch nicht, er will nur forsch sein und in seinem Laden sitzen und zeigen, wo die Grenze ist zwischen ihm und dem Rest der Welt, womit er Sie meint, mit dem Rest. Macht Ihnen das auch Angst?
Und: An Tagen, die nicht zum Reden gedacht sind, geht es Ihnen da auch so, dass sich das Gesagtwerdenwollende festkrallt – in den Lungenbläschen oder quer unterm Kehlkopf – und nur in schmerzvollen Splittern hochkommt, weil es keine Anlaufzeit gab, keine Vorwarnzeit beim Angesprochenwerden? Vergleichen Sie sich dann mit einem alten Diesel, der ohne Vorglühzeit kalt gestartet werden soll?
Versuchen Sie manchmal, eine Meinung zu artikulieren und hören sich dann beim Artikulieren so deutlich zu, dass Ihnen alles, was sie sagen, fremd vorkommt und es daher besser scheint, den Mund zu halten? Was Ihr Gegenüber sichtlich verstört, was wiederum Sie selbst noch mehr verstört und endgültig die Rede einfriert?
Denken Sie nicht auch oft, alles Irrsinn, was sich da von den Plakatwänden auf die Straßen schleimt (auf denen Sie permanent die Seite wechseln möchten, aber nicht tun, weil das wäre ja verrückt), oder aus den Postkästen, oder aus den Nachrichten? Wie ist das nun, haben Sie Kinder? Schon fertige, geplante, noch am Überlegen? Falls ja, verwirrt Sie das nicht noch mehr? Was, wenn Sie ihnen die Welt erklären sollen, oder Zuversicht geben, oder einfach nur manchmal eine flotte, eloquente Antwort auf eine kleine, harmlose, niedliche Frage?
Dabei ist man immer noch damit beschäftigt, Antworten auf die eigenen Fragen zu suchen, was heißt, die eigenen Fragen nach irgendeinem halbwegs vernünftigen System zu ordnen, um Überblick zu erhalten, was völlig ohne Aussicht ist. Ehrlich: Für mich war die Ahnung um diesen Lebenszustand Grund genug, mir kein Kind und, wichtiger, mich keinem Kind zuzumuten. Eigentlich.
Denn uneigentlich sitzt mein Sohn jetzt im Wohnzimmer auf der Couch, schaut mit einem hübschen Mädchen fern – das er nicht in sein Zimmer lassen kann, weil, genau, ganz schlimm. Und daher sitze ich in der Küche beim Tippen, und dass das alles so ist, ist auch eines dieser Rätsel, aber immerhin: Es scheint doch zu funktionieren.