Exorzismus zwischendurch
15/12/2006
Wohin mit der Wut in der niedersten aller Welten
Diese unsere Welt, schreibt Singer in „Die Gefilde des Himmels“, sei laut Talmud die niedrigste aller Welten, in der alles Licht zu Stein werde, zu Knochen und Erde. Vielleicht damit wir es fassen mögen, dieses Licht und daraus machen, was wir daraus zu machen verstehen.
Und Tolstoi lässt in „Der Tod des Iwan Iljitsch“ einen Sterbenden darüber nachdenken, ob er, der von sich geglaubt hat, sein Leben lang beständig aufwärts zu gehen, nicht abwärts gegangen sei statt dessen. Sich seinen Aufstieg nur vorgelogen zu haben, so wie ihm alles auf einmal Lüge erscheint, die Fürsorge seiner Frau, die Zuwendung seiner Freunde, alles.
Mein fast erwachsener Sohn sitzt am Tisch, ich sage etwas, er motzt. Ich explodiere. Nicht: Ich weise ihn zurecht. Das ist grüngallige Wut, die sich hoch steigert in einen völlig hysterischen Ausdruck, dass ich so nicht mit mir sprechen lasse, und die Schnauze hätte ich voll und überhaupt und ohnehin. Bald schreien wir beide, er fassungslos ob der völlig inadäquaten Reaktion meinerseits, ich außer mir, außer jeder jemals gefassten Regel im Umgang mit meinem Kind, mit Menschen generell.
Am Ende finden wir uns im Badezimmer wieder. Er sitzt am Badewannenrand, ich stehe in der Tür, bin atemlos und schäme mich zutiefst. Diese ganze Wut, werde ich ihm und mir später erklären, die meinte nicht dich. Wen dann, fragt er und ich, ich weiß das auch nicht so genau.
Mir ist, als wäre eine Schar Dämonen aus meiner Brust in eine Schweineherde gefahren, oder in die Tauben auf dem Dach. Und der, der den Dämonen das Weichen befohlen hatte, sitzt hier und ist ebenso verstört wie ich. Mein Sohn, der Exorzist. Die Lungen tun mir weh, sie sind ganz leer, aber eigenartig gut fühlt sich das auch an. Leichter nämlich, was die Frage aufwirft, was Schweres drinnen war. Ich dachte ruhig zu sein. Den Grad zu kennen, bei dem Überhitzung droht.
Früher, als wir noch Mädchen waren, öffneten meine Schwester und ich bei einem Gewitter die Fenster unseres Zimmers ganz weit. Wir löschten die Lichter und hörten Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, bis es schwere Tropfen regnete und wunderbar nach Sommer roch. Da waren wir uns einig. Aber dann wieder stritten wir, waren uns spinnefeind, hassten einander, schrien uns an, knallten mit Türen und manchmal prügelten wir uns auch, zugegeben, die Prügeleien fing immer ich an, wenn ich mich mit Worten nicht mehr wehren konnte.
Und danach? Versöhnten wir uns. Nachdem wir uns entladen hatten, waren wir wieder rein und unschuldig, sammelten aufs Neue links und rechts kleine Kränkungen und Ungerechtigkeiten auf, verstauten sie in unseren Kinderseelen, bis der Platz übervoll war und wir uns gegenseitig die Dämonen austreiben mussten.
Ich weiß nicht, wie meine Schwester das heute macht. Wir streiten nicht mehr, wir hören einander zu. Ob das reicht? Manchmal telefonieren wir lange, nehmen auf, was die andere quält und freut. Das ist gut so. Aber was macht sie mit ihren Dämonen?
Was macht die ganze verdammt aufgeklärte Elternschaft da draußen mit ihren Dämonen? Mit dem Frust, erwachsen zu sein, sich nicht mehr prügeln zu dürfen, nicht mehr laut streiten, jetzt und auf der Stelle, Ungerechtigkeit eine solche zu nennen, in dem Augenblick, in dem man sie sieht – egal, ob sie einen selbst trifft oder einen anderen? Mit der Unfähigkeit, jemanden aus ganzem Herzen zu hassen, so wie man die Lehrerin gehasst hat, die einem mit dem Fingerknöchel auf die Stirn pochte und im Takt dazu verhöhnte. Was machen wir mit unserer anerzogenen Gelehrigkeit und Höflichkeit und, vor allem, mit dem Bedürfnis, jedes unpassende Verhalten analysieren zu müssen und – man stelle sich vor! – zu verstehen?
Wie geht man um mit der kleinen alltäglichen Trägheit und den Wiederholungen, dem immer Gleichen, der hinter vordergründiger Gelassenheit versteckten Wehleidigkeit? Wo verbirgt sie sich, diese Wut, und was nährt sie?
Vielleicht ist es die Lüge, die Tolstoi erwähnt, die einem ebenso begegnet, wie sie in einem wohnt. Vielleicht ist das aber auch alles Schwachsinn und man sollte weniger Tolstoi lesen und seinen Sohn einfach aus der Schusslinie halten.
Und was genau das mit dem Licht zu tun hat, das zu Stein und Knochen wird, darüber muss ich wohl noch etwas länger nachdenken.