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Kosovo, Nr. 2

16/09/2019

Zeit ist absolut unzuverlässig hinsichtlich ihrer Fühligkeit, das wird mir in Prishtina sehr bewusst. Auf, auf, die zweite Woche schildern, bevor sich auch dieser Tag aus dem Staub macht. Schnell per random choice ein paar Bilder vom Fotoapparat ins Netz gezogen. Mich mit der Zeit solidarisierend, gebe ich heute die unzuverlässige Erzählerin.

Jüdischer Friedhof, zerborsten.

Jüdischer Friedhof, zerborsten.

Ein zerbrochenes Schneckenhaus auf dem ebenso zerbrochenen jüdischen Friedhof über der Stadt. Bin hinauf gewandert und gewandert, einen undeutlichen Straßenplan in der Hand, habe mich grandios verlaufen. In eine, zwei, fünfzehn Kurven hinein verlaufen, die mir mehr gezeigt haben als der direkte Weg es gekonnt hätte, und das ist immer so. Parkanlagen, immer schönere Häuser, fast fertig Gebautes, Bäuerliches. Unglaublich weiche Luft für alle. Der Friedhof nur ein Rudiment, es gäbe nüchterne Bilder zu zeigen, ich zeige dieses. 

Das Fast-Herbstlicht tanzt, quasi.

Auf dem Bulevardi Nene Tereza ein buntes Gefieder, jüngere, junge und sehr junge Menschen aus diversen Provinzen, in die schönste Tradition gekleidet. Aufgereiht für die Fotografen, dann wird getanzt, ein Lied nach dem anderen. Ein energisches Farbenleuchten im klaren Spätsommerlicht. Kleine Kinder sausen und hüpfen durch’s Bild, sitzen in Mini-Elektroautos und landen zwischen den Zuschauerinnen, weil reversieren ist nicht möglich. Andere kleine Kinder mit weniger Glück und schmutzigeren Gesichtern hüpfen und sausen mit.

Ein Berg wie ein Gebäude. Nein: Ein Gebäude wie ein Berg.

Wir warten auf die Eröffnung der IRWIN-Ausstellung in der Nationalgalerie, sitzen auf der niedrigen Mauer, unterhalten uns, aber der Blick will immer wieder hinüber zur Nationalbibliothek, der größten Bibliothek des Kosovos. Raben kreisen in Schwärmen darüber, während sich der Himmel färbt, die Kuppeln beginnen zu leuchten, und irgendwann ist es soweit: I have fallen in love. I will see you again, dear building.

Angekommen.

Die Ausstellung ein Glücksfall, NSK steht für Neue Slowenische Kunst, gegründet 1984, unter anderem vom Malerkollektiv IRWIN. 1992 die Umwandlung in einen virtuellen Staat, einem „Staat in der Zeit“, von dem ich schon gelesen hatte, dessen Idee mich faszinierte – und endlich, ausgerechnet hier im Kosovo – halte ich meinen legitimen Ausweis in der Hand. Dazu gibt es mehr zu erzählen, mehr zu bestaunen, aber das Bild muss ich zeigen, unbedingt. (Das Verrätselte nehme ich in Kauf, wozu gibt es Wikipedia.)

Ein geradezu typisches Prishtina-Bild.

Wo ich wohne, wecken mich Kirchenglocken, manchmal glaube ich im Halbschlaf, in Eferding zu sein. (Ein Kind.) Knappe zwanzig Minuten Fußweg weiter östlich, durch die Fußgängerzone oder einer der stark befahrenen Straßen entlang, vorbei an tausend Kleidergeschäften, Taschengeschäften, Schuhgeschäften. Kann man stehen und nicht einen Muezzin rufen hören, sondern viele. Versetzt und schön und klagend (das Klagende ist eine Vermutung, wahrscheinlich ein Sehnen, und das sage ich ungläubig). Mich erwischt und berührt das Vielstimmige auf dem Weg zum jüdischen Friedhof, den Berg hinauf.

Beim Hinuntergehen lege ich meine Kamera in den Straßenstaub.

Nachtrag: Die Zeit erzählt sich in vielen Realitäten. Vor der Abreise hierher meine zwei Tablettenboxen befüllt, zwei mal sieben kleine Fächer. (Chronisches schon lang und gut im Griff, so soll es bleiben.) Mir bei der Ankunft vorgestellt, dass, wenn ich beide auffüllen werde aus dem mitgebrachtem Vorrat, vierzehn Tage vergangen sind. Heute am Morgen, nach der Befüllung, Zähne geputzt und mir dabei vorgestellt, wie ich in weiteren zwei Wochen alles, was im Bad zu mir gehört, in die Toilettetasche packen werde und diese in den Koffer.

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