Der Werwolf in der Mauser
15/05/2006
Man kann Haare verlieren. Und die Nerven behalten.
Ich komme von diesem blöden Sonnenuntergang nicht weg. Er legt sich über alle Versuche, eine ordentliche Einleitung zu finden. Dabei geht es gar nicht um Sonnenuntergänge. Mittlerweile wate ich durch verworfene Einleitungssätze, wie: „Kennen Sie ‚American History X‘?“ Oder: „Was haben Sie gestern verloren?“ Ich meinen Sinn für Einleitungssätze.
Der ist im samstäglichen Sonnenuntergang verglüht. Wobei es nicht einmal das Farbenspiel am Horizont war, das mich so berührte. Was mir immer wieder in die Seele greift, ist die am Verschwinden der (riesigen) Sonnenscheibe sichtbar gemachte Erdrotation, die Verdeutlichung der Tatsache, dass sich diese große, feuchte Kugel beständig durch das Weltall schraubt. Und zwar ziemlich flott.
Dazu kommt dann noch die Vorstellung, nur ein wenig Luft ins All pumpen zu müssen, um die Stille mit einem Dröhnen zu füllen, das an einen Maschinenraum erinnert und an „Brazil“. Manchmal würde es ein wenig knarren und ächzen, und leiser hörte man, wie sich die Nachbarplaneten durch den Raum schieben, viel seltener käme aus weiter Ferne ein unklarer Laut. Wir würden uns lauschend am Arm berühren und erklären: Das helle Geklirre wären vermutlich die Ringe des Saturn, man wisse es nicht so genau. Ganz klein wären wir vor Ehrfurcht. Das empfand ich am Samstag so stark, dass dahinter alles andere verblasste.
Denn bevor mich das sonnenuntergängliche Dröhnen ans Fenster fesselte, hatten wir gerade über die jüngste Johnny-Anekdote gelacht. Mein Sohn ist berühmt für Blitzaktionen, bei denen sein Verstand keuchend grad noch um die Ecke biegt, während sich der Rest des Knaben schon mitten in der Umsetzung befindet. Unwiderruflich. Was am Freitag (für mich) mit einem Telefonat begann: „Hallo Mama, wo bist Du?“ Und wann ich denn nach Hause käme. Er hätte sich nämlich die Haare geschnitten, mit dem Haarschneider, und dabei sei ein bisserl was schief gegangen. Jedenfalls müsse ich ihm helfen, den Hinterkopf auch zu scheren. Scheren? Johnny hat dichtes, schönes, dunkelbraunes Haar.
Hatte: Ich kam nach Hause, und mein Sohn war verschwunden. Stattdessen stand ein (bartloser) Derek Vinyard vor mir, also der von Edward Norton in „American History X“ (übrigens großartig) gespielte, geläuterte Rassist. Keine Spur von meinem charmanten, hübschen Sohn. Das war ein Fremder im weißen Unterhemd, dem das Fehlen von Haaren eine Härte verlieh, die mich sofort losbrüllen ließ.
Im Badezimmer, das aussah, als wäre ein Werwolf spontan in die Mauser gefallen, beseitigten wir die letzten Haarbüschel. Mit dem ersten Schock war mir auch das Schimpfen vergangen. Johnny, der mit Rassismus sowenig am Hut hat wie der Sonnenuntergang mit dem Rest der Geschichte, hatte sich selbst überrumpelt. Die Konsequenzen daraus – ein Anschiss vom Chef, ein paar schräge Blicke von den Leuten – ertrug er mit Fassung.
Jetzt können wir schon wieder darüber lachen. Derek Vinyard verschwindet in dem Ausmaß, in dem ich mich an meinen neuen Sohn gewöhne. Johnny hat nicht mehr verloren als ein paar Haare, und die kommen wieder (ein Kopfhaar braucht drei Tage für einen Millimeter). Und im Grunde: Er ist 16, es ist sein Kopf, was reg‘ ich mich auf.
Mir schwant übrigens, dass mir auch der Sinn für Schlusssätze abhanden gekommen ist. Ich wollte tatsächlich schreiben: „Johnny ist sein eigener Planet.“ (Aber vielleicht ist das gar nicht so abwegig. Und das Muttertier in mir ist sein Trabant.)
Was red‘ ich
28/02/2006
Einen Cent für jeden Hunderterbund Worte
Einen Cent für jedes Wort. Was red‘ ich. Einen Cent für jeden Hunderterbund Worte, den ich in den vergangenen sechzehneinhalb Jahren an Johnny gerichtet habe. Wir wären reich, mein Spross und ich.
Heute red‘ ich nix. Weil ich erstens eh nichts verdiene damit und zweitens Halsweh habe, ansatzweise, was völlig reicht, um mich verstummen zu lassen. Und drittens: Weil es völlig egal ist, ob ich was sage und falls ich was sage, was ich sage. Was nicht heißen soll, dass ich nichts zu sagen habe. Im Gegenteil: Zu viel! Wenn angeblich ein Mann ein schlichtes Wort ist und eine Frau ein komplexes Wörterbuch (oder umgekehrt) – dann ist eine Mutter (ich) der Brockhaus. Und zwar der vollständige. Und das nur, wenn es um Johnny geht. Sonst weiß ich durchaus Maß zu halten.
Die Leute wundern sich immer, dass ich so ruhig und gelassen bin. Man kriegt nichts mit von mir – ein Kollege meinte kürzlich, er habe mich in den ersten Wochen für „stumm“ gehalten, oder so. In Wahrheit verbrauche ich das mir zugeteilte Wortkontingent fast ausschließlich für pädagogische Zwecke. Für alles andere bleibt nichts übrig. Jede/r Alleinerzieher/in wird mir das bestätigen: Erziehung ist wortreich. Besonders wenn es keinen Partner gibt, der den Wortfluss eindämmen hilft. Ich weiß, es gibt auch andere Ansätze. Eine Zeitlang profitierte ich durchaus erfolgreich von meiner physischen Überlegenheit und konnte die verbale Überzeugungsarbeit – zum Beispiel in Sachen Abwaschen – durch aktives „In-die-Küche-tragen“ unterstreichen.
Dafür ist der Knabe schon zu groß. Er würde mich einfach wieder aus der Küche hinaus tragen. Ich habe auch den leisen Verdacht, dass er mir nicht nur körperlich überlegen ist. Es lässt sich leicht beobachten: Sobald ich mit dem Satz „Komm und setz‘ dich, sofort!“ ein Referat einleite (Inhalt egal), kommt er her, setzt sich und schaut fern. Innerlich. Doch, doch, wir führen schon interessante Gespräche. Wenn er will. Und nur dann.
Ein Klassiker aus der Frühphase: „Probier das, nur einen Bissen!“ Keine Chance. Johnnys Gemüse-Gegenargument: „Wenn du kein Fleisch ist, esse ich kein Gemüse.“ Damals war er zirka fünf. Die Logik meines Sohnes hat mich immer schon verblüfft. Später hat mich Johnny ganz einfach mit meinen eigenen Waffen geschlagen: Sobald ich irgendetwas von ihm wollte (lernen, Mist raus tragen, Großeltern anrufen), verwickelte er mich in eine Diskussion – bis er hinter einem gemeinsam produzierten himalayanischen Wortgebirge verschwunden war und sich aus jenem Staub machen konnte, in dem er seine leer geredete Mutter schnöde zurückließ.
Pah, Schurke! Seit ich ihm auf die Schliche gekommen bin, wird nicht mehr diskutiert. Also, fast nicht mehr. Er hat mich gut erzogen. Es reicht, ihm das Mistsackerl zu einem günstigen Zeitpunkt in die Hand zu drücken (wenn er gerade die Wohnung verlässt). Dann nimmt er es mit. Es reicht, ihm einfach Essen auf den Tisch zu stellen. Er isst es. (Meistens.) Es reicht, nicht in sein Zimmer zu gehen und die Restwohnung halbwegs sauber zu halten. Irgendwann fällt ihm der Unterschied auf. (Hoffentlich.)
Es reicht sogar völlig, ihm von Zeit zu Zeit die Leviten zu lesen. Kurz und bündig. Vielleicht muss man, um die richtigen Worte zu finden, erst ein paar Millionen davon verlieren … Und wenn sie einem dann völlig ausgegangen sind, die klugen Sätze, dann fällt einem vielleicht auf: He, der Junge kommt wunderbar zurecht – alles, was ihn nervt, ist das ständige Gequatsche.
Also, was red‘ ich? Passt ja eh alles. Und Johnny schleppt jetzt schon eine ganze Enzyklopädie handfesten Mutterwitz mit sich rum. Das sollte vorerst reichen.
Nackt unter Nackten
22/02/2006
Störungsfrei in Schwefelbad
Unterwegs auf Österreichs spannendster Telefonverbindung – auch Westbahnstrecke genannt. Gerüchte wissen, die ÖBB überlegt eine neue Art Telefonjoker: Raten Sie, wie viele Sekunden Ihr Gespräch überleben wird, bevor es sich frustriert aus dem Zugfenster stürzt. Sollten Sie gewinnen, schreiben Sie Namen und Adresse auf ein Taschentuch, schnäuzen sich einmal kräftig hinein und schmeißen Sie das Ergebnis in die eigens von der ÖBB zur Verfügung gestellten Mistbehälter. Gratis.
Entspricht „schnäuzen“ mit „ä“ der neuen Rechtschreibe? Mir gefällt es, weil sich „schnäuzen“ von „Schnauze“ ableitet und es extrem wohltuend ist, wie viele Leute in diesem Zugabteil dieselbe halten – offenbar haben sie sich nix zu sagen ohne mobile Schnittstelle. Fast ist mir, als ob die anonyme Reisekollegenschaft ein stillschweigendes „Pssst!“ vereinbart hätte – extra für mich. (Danke, bin sehr gerührt!) Denn Frau K. entfernt sich gerade von Wien, lässt Beruf, Alltag und das 16-jährige Selbstfindungsprogramm namens Johnny hinter sich, in froher Erwartung eines wohligwarmen Tages in der Therme Bad Schallerbach. Saunieren mit Frau A. steht am Programm, und zwar gründlich. Und kinderlos. (Frau A. nennt drei Monster ihr Eigen. Zu unserem Spezialprogramm zählt „Kinderallergie“ mit Husten- und Würganfällen, vorgetragen am liebsten zu vorgerückter Stunde, meist dann, wenn zufällig ein Nachwuchs das Zimmer quert.)
In Wien bin ich übrigens derart schüchtern, dass Sie mich NIEMALS nackt in einer gemischten Sauna treffen werden. (Angezogen natürlich auch nicht.) Oberösterreich hingegen ist Heimat … Nein. Daran liegt es nicht. Mit Bad Schallerbach verbinden mich nette Erinnerungen. Johnny auch. Er war noch ein ziemlich kleiner Johnny, als seine Mama nach einem Saunagang beschloss, ohnmächtig auf die kalten Fliesen zu sinken. Später meinte er, er hätte erst gar nicht bemerkt, dass ich die Nackte war, die sich da auf dem Boden ausbreitete. Was an den fünf bis sieben älteren Herren gelegen sein mag, die mich besorgt umringten. Und das, dem Wesen der Sauna entsprechend, ebenfalls im Zustand paradiesischer Nacktheit.
Obwohl Adam im Paradies gar nicht die Chance hatte, ein älterer Herr zu werden, bevor er hinaus komplimentiert wurde – was wieder eine interessante theologische Frage aufwirft: Wären Adam und Eva im Paradies gealtert – mit allen Folgen … zum Beispiel jenen, die ich aus der liegenden Perspektive einer aus hilfloser Ohnmacht Erwachenden direkt im Blickfeld hängen hatte?
Ungelogen: Ich wechselte sofort wieder in den Zustand der Bewusstlosigkeit und kann bis heute nicht sagen, ob wirklich nur der schnelle Fluchtversuch Schuld daran trug.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt erkannte mich mein Sohn wieder. Ich ihn allerdings erst, als ich mich auf einer Liege im Außenbereich wieder fand und von Johnny mit Müsliriegeln gefüttert wurde. Der Arme. Sollte er jemals einen Seelenklemptner beschäftigen, kann er mir jedenfalls nicht vorwerfen, nichts Erzählbares erlebt zu haben.
Die Adam-Frage hätte ich damals übrigens gleich direkt in der Sauna mit dem Pfarrer unseres Heimatstädtchens klären können – eine Chance, die ich mir angesichts der unbedeckten Hinteransicht unserer Lokal-Eminenz entgehen ließ.
Wie auch immer: Zwischen mir und dem Tag in der schwefeligen Thermenhitze liegt nur mehr eine holprige Zugfahrt mit der LILO (Linzer Lokalbahn) und eine erfrischende Nacht im Energiesparhaus meiner Eltern (wobei sich das „Energiespar“ eher auf meine Eltern bezieht als auf das Haus). Morgen Abend geht’s zurück nach Wien: Störungsfrei (durch den ÖBB-Telefonservice), porentief rein und garantiert ohne eine weitere unkontrollierte Begegnung mit den nackten Folgen der Schwerkraft gehabt zu haben. (Frau A. ist Krankenschwester. Sie passt auf mich auf.)
Hummer und Schmutzwäsche
22/01/2006
Von führenden Waschmittelpsychologen empfohlen
Ein führender Waschmaschinenhersteller – nein, ganz falsch – ein führender Jugendpsychologe hat in einem seiner Bücher Heranwachsende mit jungen Hummern verglichen, die gerade wachsen, daher den Panzer abgeworfen haben und sich derart verletzbar in ihre mit Unrat gepolsterte Höhle (aka „Zimmer“) zurückziehen. Wobei der Unrat Trost spendet. Oder so. Ich hab‘ mir weder den Namen des Herrn gemerkt, noch das Buch, aus dem ich hier so grob aus dem Gedächtnis zitiere. Auch nenne ich keine Waschmaschine mein eigen. Trotzdem passt das Ganze fein zusammen.
Denn ein- bis zweimal pro Woche drängt es mich, Wäsche zu waschen. Und sofern das einzige Exemplar Waschmaschine frei ist, das uns Mietern zur gemeinsamen Verwendung dient, wird auch gewaschen. Was ich dabei gelernt habe: Wer waschen will, muss schnell sein. (Es sind die kleinen Dinge, die den Alltag spannend machen.) Zusammenraffen, was entfernt an Schmutzwäsche erinnert, zwei Stockwerke hoch hetzen, sich an die Waschmaschine klammern wie Gollum in „Herr der Ringe“ an den Ring („It came to me, my own, my love… my… preciousssss“) und dabei, wenn geht, keine Spur aus Stringtangas, Stinkesocken und Waschpulver hinterlassen.
Sehr praktisch ist bei diesen Hauruck-Aktionen, dass sich meine Wäsche quasi eigenständig zusammenrafft. Sie hat aus jahrelanger Praxis gelernt, sich beizeiten im Schmutzwäschekorb einzufinden. Mit Johnnys Wäsche muss man hier etwas nachsichtiger sein: Sie ist, wie ihr Besitzer, noch nicht ganz so selbständig und verteilt sich über sein Zimmer. Was sag‘ ich. Über die ganze Wohnung.
Gut, dass es Mütter gibt, die praktische Dinge vererben: Zum Beispiel den Wäscheschlachtruf. Eine Großmeisterin dieser Kunst – meine Mutter – hat mir und meiner Schwester diese Tradition weitergegeben. Praktischerweise stand die Waschmaschine meines Elternhauses im überdachten Innenhof, dessen Akustik dazu geeignet war, die ganze Kleinstadt zu beschallen.
Mich wundert heute noch, dass Mutter nur die Familienwäsche wusch, nachdem sie mit ihrem „Hastdunochwaszuwaschen?“-Schrei sämtliche Nachbarn regelmäßig dazu aufforderte, vom Höschen bis zur Bettwäsche „alles“ und „zwar sofort“ abzuliefern, weil sie „eben jetzt“ wasche. Und nicht später. Es war unmöglich, sich dem zu entziehen, egal, ob es gerade passte oder nicht. Weil man beispielsweise unter der Dusche stand, splitternackt, mit Shampoo in den Augen.
Wenn ich also den Hummer, der mein Sohn gerade ist, zur Herausgabe seiner Koch- und Buntwäsche zwingen möchte, greife ich auf Mutters Erbe zurück. Ich habe die Kunst des Wäscheschlachtrufens sogar weiterentwickelt und fokussiere den Schall gezielt auf Johnnys Zimmertür – die Wände in einem 70er Jahre-Neubau sind dünn, und die Nachbarn dürfen nicht spitzkriegen, dass die Waschmaschine frei ist.
Ehrlich: Ich brauche nur anzusetzen und aus der Hummerhöhle fliegt mir ein Wäschekorb entgegen, auf dessen Grund sich sogar ein paar Jeans und einzelne Socken verirrt haben. Die darauf folgende Diskussion mit dem Hummer dient dazu, auch die Wäsche freizupressen, die nicht im Korb lag, sondern sonst wo. Also den Großteil. Bleibt nach erfolgreicher Verhandlung, die Wäsche vom Müll zu trennen, diesen wieder in der Hummerhöhle zu drapieren (Tür auf, werfen, Tür zu) und flott die Waschmaschine zu entern.
Warum ich den Knaben die Wäsche nicht selber waschen lasse? Ach, wissen Sie: Am Vermüllungsgrad der Wäsche lässt sich angeblich erkennen, ob dem Junghummer bereits ein neuer Panzer wächst. Meint der Waschmittelpsychologe. Zumindest ungefähr. (Und wenn nicht: Es sind die kleinen Dinge, die den Alltag spannend machen. Aber das erwähnte ich ja schon.)
Weihnachten mit Tempo 80
22/12/2005
Slow down in the night of the living dead
Johnnys Untertitel zum diesjährigen Weihnachtsfest lautet: „Die Nacht der lebenden Toten.“ Wer Radio hört, weiß warum: Quer durch (fast) alle Radiosender durften in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember sämtliche Radioleichen fröhliche Urstände feiern. Wir hatten Stunden, um uns davon zu überzeugen. Wir fuhren nämlich von unserem Heimatstädtchen zurück in das zirka 200 Kilometer entfernte Wien, mitten in der Nacht. Mit Tempo 80. Maximal. Die Autobahn war fast leer, mein Sohn saß neben mir, im Fond döste mein Freund, der Kurde, die Heizung bullerte und aus dem Radio hämmerten Songs, denen die Zähne bereits ausgefallen waren, mit Greisenstöcken gegen meine Nerven. Am Anfang war’s ja noch lustig. Johnny und ich sangen mit, was das Zeug hielt. Man kennt die Sachen ja von den letzten Jahren.
Aber dann schlief der Knabe in den Beifahrersitz gekuschelt ein. Der Kurde ließ auch nichts mehr von sich hören. Es war ein ziemlich anstrengender Tag gewesen.
Gegen Mittag hatte ich das Auto vom Autoverleih geholt. Unverschämt teuer, aber die einzige Möglichkeit, Weihnachten richtig zu feiern – mit Familie, echten Bratwürsteln und solchen aus „Tufo“ (Copyright mein Vater, dafür hat er die vegetarischen Dinger diesmal nicht verbrannt …), dem Gelächter beim Versuch, „Stille Nacht“ zu singen und dem pulloverwarmen Gewusel um den Christbaum.
Da Johnny arbeiten musste, konnten wir aber erst am frühen Nachmittag von Wien aus gen Westen ziehen. Endlich zu Hause, begrüßte mich mein Vater mit einem Lächeln und den Worten: „Du hast einen Platten.“ Ah ja. Der Herr vom ÖAMTC war auch der Ansicht und montierte den Ersatzreifen … soll heißen: Den Notreifen. Ich versuchte ja, es zu ignorieren. War schlicht unmöglich. Das große, gelbe Pickerl auf dem Notreifen schrie: Nicht schneller als 80 km/h!
Mit 80 km/h mitten in der Nacht zurück nach Wien? Sollte das mein Weihnachten sein? Mein geliebtes Weihnachten, dem ich ohne jedwede Ironie gegenüber stehe? Jawohl, es sollte – denn mein Junior musste sich für das Gastgewerbe entscheiden und am nächsten Morgen um sechs wieder wie aus dem Ei gepellt fremde Buffets aufbauen.
Was blieb mir anderes übrig. Ich wünschte dem ÖAMTC-Typen ein frohes Fest und machte mich ans Räucherwerk: Als meine Oma noch lebte, sind wir zwei in den Raunächten durch unser uraltes, riesiges Haus gewandert, vom Keller bis zum Dachboden, vom Vordereingang durch den Hof bis ans Ende des Gartens, in dicke Weihrauchschwaden gehüllt. Wegen der wilden Jagd, die in solchen Nächten über das Land zieht.
Meine Oma starb, als ich 14 war. Und seither gehe ich mit dem alten, mit glühenden Kohlen gefüllten Bügeleisen in der ersten der drei Raunächte allein durchs Haus und verbrauche dabei Unmengen edles Räucherharz. Im Keller stehe ich besonders lang, und dann nehmen wir beide, also das alte Haus und ich, einen tiefen Lungenzug Weihrauch. So war es auch diesmal.
Und später, nach den Bratwürsteln, Gelächter und Gewusel, beladen mit selbst gebastelten (oder angesetzten) Geschenken (danke für den Schnaps!), einer Kiste Kekse und immer noch nach Räucherkammer riechend, machten wir uns auf den Heimweg.
Mit 80 km/h. Auf der ziemlich leeren Autobahn. Die Zombielieder mussten in der Höhe von St. Valentin einer CD weichen. Johnny schlief, der Kurde sann im Fond seinen Gedanken nach, es war warm, die CD auch im dritten Durchlauf wunderschön, ich war so ruhig wie seit Wochen nicht mehr – und spätestens in St. Pölten wünschte ich mir noch 100 Kilometer mehr auf dieser Fahrt durch die Nacht der lebenden Toten.
Dividieren im Schnee
15/11/2005
Meine Eltern, die Schule und ich
Meine Eltern sind gute Menschen. Warmherzig, gelassen, hilfsbereit. Mein Vater, der in jungen Jahren Rita Hayworth bekochte, deckt eine ganze Kleinstadt mit Weihnachtskeksen ein (ganzjährig). Meine Mutter bestrickt nicht nur charakterlich, sondern auch tatsächlich: Gib ihr einen Knäuel Wolle, sie macht daraus einen Pulli, den du nie wieder ausziehen willst.
Ich liebe meine Eltern samt Keksen, Pullis, Familientreffen und dem Nachbarkater Moses, der die beiden adoptiert hat. Und weil das so ist, schwöre ich an dieser Stelle Stein und Bein, dass ich in ihrer Gegenwart nie wieder die Killerkombination „Johnny“ und „Schule“ erwähnen werde. Das ist nämlich passiert: Sie ist mir aus dem Mund gefallen, während ich mit meinem Vater telefonierte. Ich wollte sie noch zurückstopfen: zu spät.
Alles fing ganz harmlos an. Wir unterhielten uns über dieses, jenes und Johnnys neue Lehrstelle, die ihm wirklich gefällt. Und dann meinte ich, der Knabe müsse jetzt nur noch die Berufsschule ernst nehmen. (Die Worte kamen aus dem Hinterhalt, sie dürften hinter dem Gaumenzäpfchen gelauert haben.) Das ist wie beim Tennis. Du spielst einen Ball, der Gegner schlägt zurück.
Mein Vater schlug zurück: „Ja, du musst schon aufpassen, dass er lernt.“ (15:0) Ich konterte: „Johnny ist 16 und langsam selbst dafür verantwortlich. Wenn er Hilfe braucht, kann er jederzeit kommen.“ (15:15) Vater: „Das hast du schon gesagt, als er acht war.“ (30:15) Ich: „Das stimmt doch gar nicht! Das ist nicht fair!“ (Out, daher 40:15) Vater: „Warte, ich geb‘ dir Mutti.“ (Spiel, Satz und Sieg.)
Bitte. Ich habe mehr Stunden lernend an der Seite meines Sohnes verbracht, als ich je in meiner eigenen Schulzeit auf Lernen verschwendete. Der Beweis: Ich kann jetzt ohne Taschenrechner dividieren, sogar mit Kommastelle. Hatte ich vorher nie begriffen. Ich kenne die geologische Struktur meines Heimatortes besser als mein Bankkonto und habe entdeckt, dass auch Englisch grammatikalischen Prinzipien folgt. (Die Geschichte meiner Schulkarriere ist eine Geschichte voller Missverständnisse.)
Reden, motivieren, anspornen, schimpfen, verzweifeln, erleichtert sein: Es gab Zeiten, da hätte ich mir die Baldriantropfen am liebsten intravenös verabreicht, so nervös hat mich Johnnys Art gemacht, sich mit dem österreichischen Schulsystem zu konfrontieren. Seine Volksschullehrerin meinte einmal über ihn: „Johnny ist wie ein Schwamm. Er saugt jede Information auf, die er kriegen kann. Jede. Das kann eine Geschichte sein, die ich erzähle, oder die Schneeflocken draußen vor dem Fenster. Manchmal entscheidet er sich eben für die Schneeflocken.“
Das erinnerte mich allerdings an etwas: Ich war 16, wir hatten Betriebswirtschaftslehre und ich wachte erst aus meiner Versunkenheit auf, als der Professor vor meinem Gesicht herumfächelte. Was glauben Sie, was ich betrachtet hatte? (Kleiner Hinweis: Es war Winter.)
OK! Meine Eltern sind zu einschlägig vorbelastet, um das Thema „Schule und Johnny“ als das zu sehen, was es ist: Kein Problem. Der Knabe hat alles geschafft, was zu schaffen war. Er hat aus eigenem Antrieb und ohne Beziehungen eine wunderbare Lehrstelle gefunden und die grauen Haare, die mir in den letzten zehn Jahren gewachsen sind, könnte ich zur Not färben.
Vorerst ziehe ich mich in den warmen Strick meiner Mutter zurück, während sich die Weihnachtskekse meines Vaters überlegen, meinen Körper neu zu modellieren. Und denk‘ mir meinen Teil. (Draußen schneit es.)
Johnny, der Kurde und die Couch
30/09/2005
Gibt es so etwas wie Männergespräche?
Ich kann nicht über Johnny schreiben, ohne irgendwann den Kurden zu erwähnen. Denn in meinem Freund hat mein Sohn etwas gefunden, das für allein erziehende Söhne sprichwörtliches Manna ist (auch wenn der Kurde nicht eben vom Himmel fiel): einen Couchgefährten.
Der Kurde hatte von Anfang an ein Händchen für den Knaben. Psychologisch einwandfrei könnte man sogar sagen: Er holt Johnny dort ab, wo der sich gerade befindet. Und das ist in neun von zehn Fällen die Couch. Gut, das war böse. In acht von zehn Fällen. Wobei das verhunzte Therapeutenvokabel „abholen“ natürlich nicht wörtlich zu nehmen ist. Ist es ja nie. Gott, ich könnte jedem, der „abholen“ im Psychotantenjargon verwendet, ins Gesicht springen, mittlerweile. (Genau genommen müsste ich jetzt mir ins Gesicht springen.) (Noch genauer genommen holt der Kurde den Knaben auch gar nicht ab. Er setzt sich einfach auch auf die Couch.)
Also: Johnny, der Kurde und die Couch. Die Längslänge nimmt der Kurde ein, die Querlänge der Halbwüchsige. Die beiden unterscheiden sich hauptsächlich durch die leicht dunklere Färbung des einen, sieben bis acht Zentimeter Körperlänge und etwa 15 Kilo Masse und, ach ja, der Kurde trägt Brille und hat mehr Bart, wenn es nicht gerade Donnerstag und er folglich frisch rasiert ist. Mit dem Einschalten des Fernsehers gleicht sich auch das intellektuelle Niveau der beiden an. Was nicht unbedingt heißen muss, dass Johnnys IQ steigt. Die Lieblingssendung des Kurden ist „King of Queens“, alternierend mit Schwergewichtsboxen und wehe, es läuft „Miami Vice“. Oder „Raumschiff Enterprise“ in egal welcher Entwicklungsstufe.
Läuft grad nix im Fernsehen, das knallt, rumpelt, explodiert, blutet oder zumindest knapp angezogen und sexy ist, unterhalten sich die beiden. Worüber? Über Dinge, die knallen, rumpeln, explodieren, bluten oder zumindest knapp angezogen und sexy sind.
Der Kurde spricht eindeutig mehr Sprachen als Johnny, nämlich fünf. Andererseits spricht Johnny einwandfreies Oberösterreichisch, sowie diverse Mixformen bis hin zum (fast) lupenreinen Hochdeutsch. Zählt das? Sein noch etwas holpriges Schulenglisch gleicht er durch einen unglaublichen Charme aus, den er eindeutig von mir geerbt haben muss. Oder von seinem Opa, der ist auch so. Egal.
Die Sprache, die von den beiden Jungs auf meiner Couch gesprochen wird, ist mir übrigens völlig fremd. Sie riecht nicht nur irgendwie anders, sie fühlt sich auch anders an. Und manchmal webt sie einen unsichtbaren Grenzzaun um die Couch, der mich ausschließt. Drinnen: der Kurde, Johnny und das undefinierbare, aber wahrscheinlich eindeutig männliche Etwas. Draußen: ich.
Vielleicht ist der Kurde ja doch vom Himmel gefallen. Geschickt als dringender Ausgleich für das weibliche Übermaß in Johnnys Leben – Kindergärtnerinnen, Volksschullehrerinnen, Mittelschullehrerinnen, Nachhilfelehrerinnen, Großmütter, Tanten, Freundinnen – und ich. War nicht sogar Godzilla ein Weibchen?
Wundern würd’s mich nicht.
Warten auf… Johnny
15/09/2005
Die Zeitfressmaschine
Ich warte. Das kann ich mittlerweile schon ziemlich gut, das Warten. Und wo ich schon überall gewartet habe! Besonders beliebt: Vor dem Generali-Center, vor der Apotheke am Schwedenplatz, vor diversen Schulen, in Arztpraxen, in Unfallambulanzen – womit wir beim Thema wären: Johnny.
Der ja an sich ein Unfall war. Also in dieser Form, nein: generell, nie geplant. Ich wollte keine Kinder haben; allein, die Realität holte mich ein. Die Realität hieß Werner und war mit einer 900er Honda Bol d‘Or ziemlich schnell unterwegs.
Kurz: Der Motorrad-Urlaub auf Korsika endete mit einer schweren Verkühlung, die meinen Zyklus derart beeinflusste, dass – Zack Bumm. Na ja. Meine Oma meinte damals, ich triebe böse Scherze mit einem Mutter-Kind-Pass-Prospekt vom Frauenarzt. Um meine Familie ein bisschen auf den Arm zu nehmen. Liebe Oma im Omahimmel, du siehst ja, was aus diesem Scherz geworden ist! So böse ist er übrigens gar nicht. Nur ein bisschen verpickelt zur Zeit.
Worauf ich hinaus will: Mein Sohn hat mich immer schon warten lassen. Begonnen hat das bei seiner Geburt: Johnny kam nicht. Zwei Tage nach dem errechneten Termin begann es zu zwicken; es war, ich weiß es noch genau, ein Sperrtag. Also: ein Freitag. (Ich lebte damals im Gasthaus meiner Eltern, die es sehr zu schätzen wussten, dass Johnnys Ankunft den laufenden Betrieb nicht störte.)
Gegen Mittag informierte ich den Kindesvater. Werner machte sich auf den Weg nach Wels, wohin auch ich mich begab, um in der Frauenklinik niederzukommen (was für ein Wort!). Franz ließ sich Zeit – er hoffte, den blutigen Teil der Angelegenheit zu verpassen. Er ließ sich viel Zeit. Johnny ließ sich allerdings noch mehr Zeit als sein Vater, der irgendwann, neben mir sitzend, in den Stand-by-Modus kippte. Wäre vor dem Klinikfenster nicht eine Gasleitung explodiert, Werner hätte durchgeschlafen. So konnte er dann wenigstens der Feuerwehr zusehen, während ich mich fadisierte.
Von Zeit zu Zeit tröpfelte medizinisches Personal ins Zimmer, überprüfte den Stand der Dinge, zuckte die Schultern und verzog sich wieder. Die Wehen kamen und gingen, wer nicht kam: Johnny. Der wollte einfach nicht. Wahrscheinlich war es ihm zu anstrengend. Schließlich gab er ganz auf, und da wurde es spannend: Nach der Diagnose „Geburtsstillstand am Beckenboden“ fand ich mich plötzlich einsam und verlassen im Zimmer wieder.
Alle, inklusive Werner, waren im angrenzenden Operationssaal. Als sich das Fehlen der Hauptperson bemerkbar machte, wurde ich doch noch zur Party gebeten. Dann ging alles sehr schnell: Man schnallte mich auf eine Liege, eine Hebamme hechtete auf Arztkommando von rechts hinten schräg über meinen Körper („Drüüücken!“) – und da war der Wonneproppen. Johnny sah übrigens laut Zeugen haarscharf aus wie der Bruder von ET.
Eine Stunde später (ich wartete…) legte man mir den Winzling geduscht und gewickelt auf den Bauch. Den Blick, den er mir zuwarf, werde ich nie vergessen: Wie könnte ich auch. So sieht er heute noch aus, wenn man ihn aufweckt. Egal, wie lange er geschlafen hat.
Manches bleibt eben immer gleich. Der Schlafzimmerblick – und das Warten. Jede Wette: Godot ist schneller als mein Sohn.
Vorsicht, nackte Mutter!
30/08/2005
Niemals konnte ich mir auch nur ansatzweise das leisten, was man (also zumindest mein Sohn) als „richtigen Urlaub“ bezeichnet. Darunter stellt er sich vor: Strand, Hitze, mächtige Buffets zum unbegrenzten Nachladen und – vor allem – die Reise per Flugzeug.
Unsere Urlaube waren: Gardasee (Zelt), Kroatien (umgebauter VW-Bus mit Bremsproblemen), 3-Tage-Eurodisneyland (Reisebus, Nonstop Linz/Paris). Wie auch immer, in allen Varianten war das Platzangebot ähnlich ausufernd wie in einem Geburtskanal – und bevor jene Phase antritt, in denen sich das Kind weigert, gemeinsam mit der Mama zu urlauben, wollte ich eben jenes noch nachholen: „richtig“ urlauben. Etwas, von dem ich ungefähr ähnlich viel Ahnung habe wie vom Brotbacken.
Mein Geschenk zu Johnnys 16. Geburtstag war also eine Reise. Die Würfel fielen auf eine Woche Chalkidiki, Griechenland – und es war furchtbar. Obwohl es auch schön war. Zumindest die Hitze war schön. Und das Meer. Abgesehen von den Seeigeln, in die wir abwechselnd latschten. Wir hatten auch keinen Fernseher im Zimmer, das war auch schön, und viel Zeit zum Reden – was wir hin und wieder sogar taten.
Ansonsten war uns fad. Nicht der schlechteste aller Zustände. Johnny las ein Buch („Der Fänger im Roggen“), ich, weil ich mich noch weniger bewegte als er, zweieinhalb Bücher von jener Sorte, denen man einen Kuss auf den Buchdeckel drückt, sobald man fertig ist – darunter „Sehnsucht nach Sibirien“ von Per Petterson. Sehr passend bei 35 Grad im Schatten.
Aus Angst vor den endlosen Nächten im Touristenghetto zögerten wir das Abendessen so lange hinaus wie irgend möglich, begutachteten vorher den Bräunegrad des jeweils anderen und machten uns gegenseitig Komplimente. (Johnny zum Beispiel: „Dir steht braun eh nicht so gut, Mama, das passt gar nicht zu dir.“) Da wir uns ein Zimmer teilten, uns aber nicht mehr im Zustand paradiesischer Nacktheit voreinander präsentieren, durften sich die Zimmernachbarn wundern. Über Rufe wie: „Vorsicht, nackter Johnny!“ oder „Vorsicht, nackte Mutter!“ Ich bin nackt seit geraumer Zeit das Allerletzte, das Johnny sehen will – und der Schlachtruf reichte, um seine Augen zu verschweißen.
Beim Abendessen selbst schauten wir diversen Touristenkollegen in verschiedenen Abfüllgraden zu und flirteten (also ich) mit den (also einem) Kellner(n). Johnny nahm sich vom Buffet nur soviel, wie er wirklich essen konnte – er schämte sich für die Gier der andern und dafür liebe ich ihn.
Aber auch für den Tag in Thessaloniki, wo wir durch die emsige Stadt schlenderten, diverse antike Trümmer im Vorbeigehen streiften und den lieben Gott/Allah/Zeus einen guten Mann sein ließen. Bei diesem als Shopping-Tour getarntem Ausflug gaben wir zehn Euro für ein T-Shirt aus und 16 Euro für den Friseur – und als Johnny mir dann frisch geschoren und gekämmt, braungebrannt, mit billigen Sonnenbrillen beim McDonalds gegenübersaß, von innen leuchtend wie ein junger griechischer Held an der Schwelle zu tausend Abenteuern – da ging mir schlichtweg das Herz über vor Stolz und Zuneigung. Allein für diesen Moment hat sich der Urlaub gelohnt.
Schönen Sex noch!
15/08/2005
Ich stolpere über einen Laut…
Schluss mit dem Gezögere: Mutigen Schrittes durchmesse ich meine Wohnung. Festen Herzens, überzeugt von den guten, natürlichen Anlagen meines Sohnes öffne ich die Tür zum Zimmer des armen, in der Verwirrung seiner erwachenden Manneskraft gefangenen Knaben. Und beschließe im selben Moment, nicht mehr soviel Dostojewski zu lesen. Was ich sehe, ist gar nicht Dostojewski. Eher Bret Easton Ellis. Austrian Psycho. Er wird doch keine Leichen…? Schwachsinn. Höchstens die verwesenden Reste von Schokoosterhasen.
Na ja. Luft anhalten und Johnnys Zimmer entern sind eins. Während ich über das Kleiderschrankmassaker balanciere und dabei versuche, nicht auf die Bohrmaschine zu treten, stolpere ich über einen Laut. Jawohl, das gibt’s. Der Laut hat hier eindeutig nichts zu suchen, also stelle ich ihn zur Rede. Worauf sich der Schuft verteidigt: Er käme nicht von hier drinnen, sondern von draußen. Vom Hof. Mangels an Beweisen muss ich ihn freilassen. Empört atme ich ein – großer Fehler, mit Spätfolgen ist zu rechnen – da kommt der Laut wieder. Tatsächlich: Vom Hof.
Johnnys Zimmer hat nämlich ein Fenster zu diesem Hof, und eine unserer jungen Nachbarinnen hat auch eines. Außerdem hat sie Sex, ganz unbestreitbar. Klingt sogar nach gutem Sex. Nein, nicht der Neid lässt mich erbeben, guten Sex habe ich selber, danke der Nachfrage. Sondern die Tatsache, dass meinem Sohn mitten am Tag quasi gratis eine 0900er-Nummer frei Haus geliefert wird. Würde, wäre er da.
Jetzt verstehe ich, warum er nicht wegziehen will. Von wegen: Die Wohnung liegt so zentral.
Ich starre Richtung Fenster, wo sich ein Kaktus phallusartig in die Höhe stachelt. Die Dinger gedeihen prächtig in dieser von Sauberkeit völlig befreiten Höhle. Wen wundert’s. Die Dame nähert sich dem Höhepunkt. Ich nähere mich meinem Wecker und der Erkenntnis, dass Johnny nicht mehr sechs, sondern sechszehn ist, ich nicht mehr 28, sondern 38 und es sich hier nur meinerseits um einen Rückfall in die prepubertäre Mutterphase handeln kann. Ich hatte mich doch schon längst damit abgefunden, nicht mehr ins Bad zu dürfen, wenn mein Sohn duscht. Außer, ich will Gekreische. Will ich nicht. Ich war es doch, die ihm angesichts fünf riesiger Knutschflecke einen Rollkragenpulli geborgt und eine Packung Kondome geschenkt hat. Zum Trockentraining. Mit wem hat er sich vom Aufklärungsbuch (das süße mit den Mäusen von Janosch) bis zum Aufklärungsvideo (weniger süß, dafür aus Dänemark) hochgearbeitet? Mit mir.
Also, Mädel da draußen: Schönen Sex noch. Ich schnappe mir meinen Wecker, grüße im Vorbeigehen die Hose, die sich in den Schmutzwäschekorb stürzen will (sie hat’s immer noch nicht über den Rand geschafft) und sage zu ihr: Lass gut sein, alles halb so wild.
Mein Sohn kommt morgen. Zur Begrüßung bekommt er elf Sachen: einen Kuss, eine Umarmung, einen Müllsack, Schutzhandschuhe, Besen, Staubsauger, Wischmop, Eimer, Desinfektionsmittel, Putzanleitung und eine Salamipizza.
Bis auf die Salamipizza wird er auf alles andere verzichten wollen. Darf er aber nicht.





